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André Neutag, Leipzig

Es ist mir ein ganz großes Anliegen, die Leute darin zu unterstützen, ihre Rechte auch wahrzunehmen und durchzusetzen.

Gesichter der Inklusion

Ich bin André Neutag, 32 Jahre jung und wohne seit Ende 2019 hier in Leipzig. Ich komme gebürtig aus Halle (Saale) und habe dort auch bis zum Ende meiner Ausbildung gewohnt. Nach einigen Jahren im Beruf als Physiotherapeut, bin ich nach Görlitz gezogen. Dort habe ich das Studium der Heilpädagogik/Inclusion studies begonnen. Da ist ja quasi schon die Widersprüchlichkeit im Studienname enthalten. Die Gründe für meinen Umzug nach Leipzig waren privater und beruflicher Natur. Die größte Motivation war eigentlich meine Freundin, die hier in Leipzig wohnt. Sie wohnt auf Grund der Persönlichen Assistenz, die sie wegen ihrer Muskelerkrankung im Alltag benötigt, in einer eigenen Wohnung.  

Ich arbeite seit Anfang 2020 im ESF (Europäischer Sozialfond) geförderten Projekt „Örtliches Teilhabemanagement“, das ein Mischprojekt aus dem ESF und dem Land Sachsen-Anhalt ist. Ich arbeite in Merseburg im Landratsamt des Saalekreises als Teilhabemanager. Das gibt es meines Erachtens so nirgendwo anders in Deutschland und hat ein ähnliches Aufgabenprofil wie das einer*s Beauftragten für Menschen mit Behinderungen. Die Idee für das Projekt kommt vom Sozialministerium in Magdeburg. Es geht quasi darum Teilhabebarrieren festzustellen und diese auf unterschiedliche Art und Weise zu beseitigen. Aber das Aufgabenprofil ist noch breiter. Wir sollen auch ganz bewusst Veranstaltungen zur Sensibilisierung und Aufklärung im Sozialraum anbieten. Wir sollen auf unsere eigene Verwaltung und auf die Verwaltung der Landkreise zugehen und diese sensibilisieren, z.B. Baubehörden zum Thema barrierefreies Bauen. 

Mein Interesse für die Thematik Inklusion rührt von einer persönlichen Beeinträchtigung her. Ich habe eine neurologische Beeinträchtigung, die mich aber soweit im Alltag nicht beeinträchtigt. Als ich noch jung war, so etwa 11/12 Jahre alt, hat mich das etwas stärker beeinflusst. Das hat dazu geführt, dass ich ab der 7. Klasse eine Schule für Körperbehinderte in Halle (Saale) besucht habe. Das war quasi der Zugang zu diesem Feld. Da habe ich angefangen, mich damit auseinanderzusetzen. Das Abitur habe ich dann nachgeholt. 

Über verschiedene biografische Baustellen bin ich also quasi dazu gekommen mich damit zu beschäftigen, dass es Menschen gibt, die irgendwie an den Rändern der Gesellschaft stehen. 

Es war eine sehr herausfordernde Zeit für mich gewesen, aber ich habe mich auf der Schule wohl gefühlt. Ich war ein Pflegekind, und dieser ganze Umbruch durch meine Herkunftsmutter, die eine psychische Erkrankung hat, war nicht einfach. Ich bin dann in ein geschütztes Umfeld gekommen. Dieser ganze Prozess war sehr stressig. Deshalb war es erforderlich einen Rahmen zu finden, der mich stabilisiert. Und diese Schule hat mir diesen Rahmen geboten. Über verschiedene biografische Baustellen bin ich also quasi dazu gekommen mich damit zu beschäftigen, dass es Menschen gibt, die irgendwie an den Rändern der Gesellschaft stehen. 

Dann hatte ich damals auf der Schule einen guten Freund kennengelernt, der eine Muskelerkrankung hat. Darüber bin ich auch auf das Feld der Muskelerkrankungen gestoßen. Und als für mich irgendwann die Frage aufkam, wie ich etwas Ehrenamtliches machen könnte, war relativ schnell klar, dass ich mich in der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e.V. engagiere. Ich wollte unbedingt etwas Ehrenamtliches machen, nachdem ich meine Ausbildung abgeschlossen hatte. Durch meinen Schulfreund kannte und wusste ich, was er für Schwierigkeiten hatte. Er war jung und wurde aber immer schwächer, nicht so wie die Jungs in unserem Alter, die immer „männlicher“ wurden - das rückblickend. Deshalb war damals meine erste Tätigkeit als Ehrenamtler mit meiner jetzigen Freundin, eine Selbsthilfegruppe für Jugendliche mit einer Muskelerkrankung aufzubauen.

Sie ist nach dem Abitur von Hannover nach Dresden zum Studieren gezogen. In Dresden gab es schon einmal eine Jugendgruppe, die aber mit der Zeit ein bisschen „eingeschlafen“ war. Sie wollte die Gruppe wieder reaktivieren. Das habe ich in der Verbandszeitschrift gelesen und mich bei ihr gemeldet. Und dann haben wir prompt ein gemeinsames Ding daraus gemacht. Darüber haben wir uns auch kennengelernt. Die Gruppe gibt es immer noch, ich bin aber letztes Jahr aus der Leitung rausgegangen. Wir haben beim Gründen der Gruppe festgelegt, dass es eine Altersgrenze für die Mitglieder geben sollte. Diese Grenze habe ich letztes Jahr erreicht. Und es wäre nicht authentisch, wenn diese Grenze nur für Betroffene gilt. Außerdem habe ich mich entscheiden müssen: Entweder Gruppenleitung oder Vorstandsaktivität - beides mit einem Vollzeitjob geht nicht.

Man muss bedenken, dass Selbsthilfe im Jugendbereich noch eher selten stattfindet. Man setzt sich mit dieser Thematik in der Jugend noch nicht so auseinander.

Wir haben mittlerweile eine junge Erfurterin gefunden, die jetzt die Gruppe mitleitet. Die Gruppe heißt Jugendgruppe Mitteldeutschland und da passt es gut, dass noch jemand aus einem anderen Bundesland in der Leitung ist.  

In den letzten Präsenz-Treffen, die vor Corona stattfanden, waren um die 8 bis 10 Leute da. Was nicht wenig ist. Man muss bedenken, dass Selbsthilfe im Jugendbereich noch eher selten stattfindet. Man setzt sich mit dieser Thematik in der Jugend noch nicht so auseinander. Zudem sind Muskelerkrankungen auch seltene Erkrankungen. Also auch kein Vergleichsmaßstab wie z.B. bei Rheuma. 

Wir tauschen uns in der Gruppe aus und machen von Gesprächsrunden über gemeinsame Aktivitäten alles, was die Gruppe möchte. Ich erinnere mich noch gerne an einen Besuch im Sozialgericht Dresden. Als uns eine Richterin in einem  Gerichtssaal erklärte, wie eigentlich ein richtiges Verfahren abläuft, und dass keiner Angst davor haben braucht zu klagen. Denn man muss nicht immer annehmen, die Krankenkasse oder das Sozialamt oder wer auch immer hat Recht mit der Ablehnung einer Leistung. 

Verwaltungsverfahren, wozu auch das Sozialrecht gehört, sind kostenfrei. Wenn man einen Anwalt oder Anwältin nimmt, dann trägt man die Anwaltskosten. Wenn eine Person, auf Grund verschiedener Gründe nicht über ausreichend Geld verfügt, kann man über das Amtsgericht einen Beratungshilfeschein bekommen. Und damit kann man zu einem Anwalt gehen und bezahlt nur noch einen Obolus von im Schnitt 11 Euro an pauschalen Kosten. Damit ist dann die Beratung erst einmal abgedeckt. Sollte es zu Klageverfahren kommen, gibt es die Möglichkeit Prozesskostenhilfe zu beantragen. Theoretisch kann jede Person auch ohne Anwalt beim Sozialgericht klagen. Idealerweise hilft auch die Rechtsantragsstelle die Klage zu formulieren. Die Richterin oder der Richter sind dazu verpflichtet den Sachverhalt zu prüfen.

Ganz häufig ist im Jugendalter, spätestens mit dem Auszug bei den Eltern, die Frage der Persönlichen Assistenz zu klären bzw. einzuklagen. Ganz häufig brauchen junge Erwachsene mit einer Muskelerkrankung, die von zu Hause ausziehen, eine 24-Stunden-Assistenz. Es gibt die Leistungsform des persönlichen Budgets. Das persönliche Budget soll die Lohnkosten für eine Assistenz sicherstellen. Die Assistenz erfüllt dann Aufgabenbereiche aus dem Haushalt, Unterstützung bei Pflegeabläufen oder andere Dinge, so wie es die assistenznehmende Person möchte. Man nennt es auch Arbeitgeber*innen-Modell. Die Person mit Behinderung kann die Assistenz selber anstellen, ohne dass ein Assistenzdienst dazwischengeschaltet ist. Die Variante mit einem Assistenzdienst gibt es aber auch noch. Man kann also auch einen Assistenzdienst beauftragen, und die haben dann einen Assistenz-Pool aus dem sie Assistenzen nehmen können. Meine Freundin z.B. hat aktuell 5 Assistent*innen angestellt, die sie alle selber gesucht hat. 

Es ist mir ein ganz großes Anliegen, die Leute darin zu unterstützen, ihre Rechte auch wahrzunehmen und durchzusetzen.

Ich habe mich im Studium schon bewusst vertiefend mit rechtlichen Fragen beschäftigt, weil ich glaube, dass es auf dem Weg in eine echte inklusive Gesellschaft eine der größten Hürden ist, dass viele Menschen mit Behinderung nicht wissen, wie sie ihre Rechte in Anspruch nehmen können. Rechte, die in der UN-Behindertenrechtskonvention widergespiegelt sind, oder auch im Sozialgesetzbuch 9. Diese Rechte existieren, klingen wohlwollend und vermitteln Ansprüche. Es ist mir ein ganz großes Anliegen, die Leute darin zu unterstützen, ihre Rechte auch wahrzunehmen und durchzusetzen. Die Rechtswissenschaft kennt da den Begriff der Rechtsmobilisierung. Es ist es eben nicht nur wichtig zu wissen, dass dort steht „ich habe ein Recht auf“ sondern man auch wissen muss, wie man darankommt. Wie funktioniert ein Antrag? Wie funktioniert ein Widerspruch? Wie funktioniert eine Klage? Diese ganze Problematik interessiert mich persönlich, und ich möchte das in der Praxis ausleben. Deshalb interessiere ich mich auch für einen Masterstudiengang an der Universität in Kassel. Er nennt sich Sozialrecht. Dort gibt es einige Professoren, die genau aus dem Rechtsgebiet kommen, ihre Expertise im Recht für Menschen mit Behinderung haben. Dann wäre ich kein Volljurist, sondern ein Sozialjurist, aber das wäre genau das, was dem Inhalt entspricht und was mich interessiert. 

Ich denke, man kann nicht immer nur sagen „es braucht mehr Inklusion“ oder „man muss Barrieren in den Köpfen abbauen“. Man muss es auch manchmal hart durchsetzen. Ich würde nicht von „einfordern“ sprechen, sondern die Verwaltungsstrukturen dazu zu bringen zu erkennen, dass es ein Rechtsanspruch ist. Es kann ja nicht sein, dass im Artikel 3 des Grundgesetzes steht, dass niemand aufgrund seiner Behinderung diskriminiert werden darf, aber Menschen mit Behinderung genau das tagtäglich erleben, z.B. beim Streit um den neuen Rollstuhl, beim Streit um die eigene Wohnung mit eigenen Lebensvorstellungen. Da gibt es noch viel zu tun. Teilhaberechte dienen nicht mehr und nicht weniger der Möglichkeit des aktiven Mitgestaltens in der Mitte der Gesellschaft.

Ich bin auch sehr froh, dass es die EUTB‘s gibt, die Unabhängige Ergänzenden Teilhabeberatungen, die auch bis zu einem bestimmten Grad beraten dürfen. Lediglich Rechtsberatungen dürfen sie aber nicht übernehmen. Allein in Leipzig gibt es mehr als vier Beratungsangebote.

Ganz konkret haben wir auch schon Erfolge errungen. Mein bereits erwähnter Schulfreund ist nach Dresden gezogen, weil das Bundesland Sachsen-Anhalt noch weniger dafür bekannt ist, dass Menschen mit Behinderung zu dem Recht kommen, das ihnen zusteht. Das ist aber auch in Dresden nicht einfach, und da ging es wirklich um sehr fragwürdige Hinterfragungen durch das Sozialamt in Dresden. Wir saßen dort im Bedarfsermittlungs-Gespräch mit der Sozialarbeiterin und der Sachbearbeiterin. Es ging um die Frage: 24 Stunden Assistenz, ja oder nein. Die Sachbearbeiterin hat dann gesagt: In der Nacht bräuchte er doch keine Assistenz, er könne ja einen Hausnotruf nutzen. Wenn sie (also die Sachbearbeiterin) sich ein Bein gebrochen hätte, hätte sie ja auch keine Assistenz zu Hause. Es ist aber unvorhersehbar wann welcher Hilfebedarf nötig wird, wann welches Bedürfnis aufkommt. Wir drehen uns im Schlaf hin und her, er muss erst einmal wach werden, um zu begreifen, dass er gedreht werden muss, damit er keine Schmerzen hat. Wenn dann ein Hausnotruf zur Tür rein ist, dann ist es viel zu spät. Die 24-Stunden-Assistenz hat mein Freund dann über das Gericht eingeklagt und auch erhalten, aber es war ein langer Weg dahin. 

Sind die Wege in der Natur auch für Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigungen erfahrbar? 

Etwas was uns auch sehr viel Freude bereitet, ist das Testen auf Barrierefreiheit von Wanderwegen. Meine Freundin ist Kartografin, das hat sie in Dresden studiert. Gerade zu Corona-Zeiten haben wir begonnen, Wege in unserer Gegend auf Barrieren zu testen. Sind die Wege in der Natur auch für Menschen mit Mobilitätsbeeinträchtigungen erfahrbar? 

Wir hatten durch die Corona-Beschränkungen plötzlich sehr viel Freizeit. Da sind wir einfach wandern gegangen. Wir haben an den Wochenenden 20 bis 30 km an Strecke zurückgelegt. Für mich war es gleich eine gute Gelegenheit Leipzig kennenzulernen. 

Nach mehreren Wanderungen sind wir dann auf die Idee gekommen, Langstreckenwanderungen zu machen. Also mehrere Tage am Stück unterwegs zu sein. Meine Freundin überraschte mich mit der Idee: „Komm wir laufen nach Dresden“. Das sind 4 Tage und 161 km. Im Kopf war das schon eine gewaltige Strecke. Wir sind Richtung Mulde gelaufen, um dort den Mulde-Radweg zu nehmen, den wir sehr empfehlen können. 

Wir sind so an die Sache gegangen: Radwege sind für das Fahrrad gemacht, also sind sie auch für den Elektro-Rollstuhl geeignet. Das stimmt aber nicht immer. Der Saale-Radwanderweg führt auch über Berge und manchmal wird der Weg mit “naturbelassen” bezeichnet. Aber was bedeutet naturbelassen? Es bedeutet in diesem Fall steinig und stufig und damit unpassierbar für den Rollstuhl. Aber hier in Sachsen ist der Mulde-Elbe-Radweg von Döbeln nach Meißen super ausgebaut. 

Bei unseren Touren sind uns verschiedene Dinge aufgefallen, die wir in einem Acht-Punkte-Plan gesammelt und notiert haben. Diesen haben wir dann der Ministerin Klepsch, die für den Bereich Tourismus zuständig ist, übergeben. In dem Plan steht beispielsweise, dass es an barrierefreien öffentlichen Toiletten fehlt. 

Unterwegs haben wir in Ferienwohnungen geschlafen, die auch nicht ganz barrierefrei und auch schlecht zu finden waren. Das ist auch so ein Punkt.

Eigentlich wollten wir die Wanderungen im privatem machen, aber uns wurde dann von einigen Menschen gesagt, dass es gut wäre, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Und dann sind wir selbst auf den Geschmack gekommen. Es war mein Part, das Gespräch mit der Ministerin zu organisieren. Das habe ich über Vereins-Kontakte organisiert. Bei dem Gespräch war u.a. auch Herr Pöhler - Beauftragter für die Belange für Menschen mit Behinderungen des Freistaates Sachsen - mit dabei, so dass es insgesamt eine gute Wirkung hatte. 

Wir haben bei unseren Wanderungen auch festgestellt, dass die Unterstände nicht für Rollstuhlfahrer*innen geeignet sind. Mittlerweile ist uns aufgefallen, dass der Sachsenforst die neuen Unterstände offener baut, also wie ein richtiges kleines Häuschen. Wir wissen nicht genau, ob das bewusst passiert ist. Aber es ist schön zu sehen, denn eine Schutzhütte sollte für jeden zugänglich sein. 

Nicht die Beeinträchtigung ist die Behinderung, sondern der Umgang damit - Behinderung ist ein sozialer Tatbestand.

Neben der Thematik, die das eigene Leben und die Selbstbestimmtheit betrifft, gehört auch der kulturelle Raum zur Inklusion. Menschen mit Behinderung brauchen auch einen gleichberechtigten Zugang zum öffentlichen Raum. Und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis. Eine Person, die eine Beeinträchtigung hat, egal ob von Geburt an oder durch Unfall etc. sollte nicht durch unser Rechtssystem behindert werden. Genau das ist es ja, was Behinderung ausmacht. Nicht die Beeinträchtigung ist die Behinderung, sondern der Umgang damit - Behinderung ist ein sozialer Tatbestand. 

Es kann nur legitim sein von Inklusion zu sprechen, wenn wir auch bereit sind, und zwar alle, die Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung nicht unter Kostengesichtspunkten zu sehen. Das ist einer der Hauptpunkte, die mich sehr stören. Inklusion wollen wir alle, aber es darf nichts kosten.

Interview geführt am: 20.07.2021

Interview veröffentlicht am: 05.10.2021