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Chris Alexander Famulla, Glauchau

Ich bin selbst jemand, der eine psychische Behinderung mit sich trägt und es deshalb schwerer auf dem ersten Arbeitsmarkt hat. Ich habe keine abgeschlossene Ausbildung und trotzdem habe ich hier eine Chance bekommen. Das ist für mich Inklusion.

Gesichter der Inklusion

Mein Name ist Chris Alexander Famulla. Ich arbeite hier in Glauchau seit 2019 in der Werbefirma „Neues Mitteldeutschland“ und bin auf Minijob-Basis fest angestellt. Wir sind aber nicht nur eine Werbefirma, sondern auch ein Fotostudio. Zusätzlich betreiben wir auch noch verschiedene Nachrichten- und Städte-Portale. Zu meinen Aufgabenbereichen gehört die Erstellung von Werbung und Fotobüchern. Ich fotografiere selbst auch Bewerbungsbilder, Passbilder und Hochzeitsbilder. Aber was ich hauptsächlich mache ist viel Pressearbeit. Ich schreibe Artikel für die vielen Portale, die wir betreiben.

Ich komme ursprünglich aus Zittau und bin in meinem Leben schon ziemlich oft umgezogen. Familiär habe ich keine Anbindung. Ich bin ein Adoptivkind. Meine Adoptivfamilie war leider nicht so der Renner. Außerdem bin ich transident. Meine Adoptivmutter kommt damit nicht klar. Deshalb existiert auch kein Kontakt mehr. Mein Adoptivvater lebt auch schon lange nicht mehr, deshalb habe ich hier in Herrn Kehrer quasi einen Vaterersatz gefunden. Er ist einer der Inhaber der Firma „Neues Mitteldeutschland“. Wir sind hier ein Familienbetrieb und ich gehöre sozusagen mit zur Familie.

Man hat mir hier eine Chance gegeben mich zu beweisen.

Ich bin durch Zufall hierhergekommen. Ich bin psychisch erkrankt und war damals wegen Angststörungen, einer Borderline-Störung und einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTPS) im Krankenhaus. Ich war mit anderen Patienten aus der Klinik in Glauchau unterwegs, um Fotos auszudrucken. Im Rossmann ging es nicht, da dort die Computer kaputt waren. Deshalb sind wir hierher gegangen, denn hier konnte man auch Fotos ausdrucken. Und so bin ich mit Herrn Kehrer vor Ort ins Gespräch gekommen, weil ich ja hobbymäßig Fotograf bin. Herr Kehrer hat mir angeboten, einfach mal vorbei zu kommen, um ihm meine Fotos zu zeigen. Ich muss dazu sagen, dass ich damals eine Angststörung hatte. Deshalb musste ich mich echt überwinden hierher zu kommen und meine Fotos zu zeigen. Aber er war sofort begeistert. Dann habe ich über das Krankenhaus ein Praktikum absolviert, und danach haben alle gesagt, wir wollen dich hier haben.

Man hat mir hier eine Chance gegeben mich zu beweisen. Und das obwohl ich durch meine psychischen Erkrankungen nie eine Lehre bzw. Ausbildung machen konnte. Ich habe zwar Abitur, aber eine Ausbildung habe ich nicht abschließen können.

Diese Chance wird in naher Zukunft auch noch ein bisschen erweitert. Weil ich irgendwann die Aufgaben von Herrn Kehrer übernehmen werde. Wir haben uns wirklich sofort verstanden. Es war als ob wir uns schon ewig kennen würden. Er selbst hat auch nicht wirklich familiäre Anbindung und hat sich gefragt, an wen er irgendwann seine Anteile weitergeben kann. Zu dem Zeitpunkt bin ich dazu gekommen, das hat einfach gepasst.

Jetzt bin ich in dem Körper, der meinem Geiste entspricht.

Diese ganzen psychischen Krankheiten, die ich hatte und habe, haben sich vor allem wegen meiner familiären Situation entwickelt. Mit meiner Transidentität hat das nichts zu tun, das hat mich im Leben eher gestärkt. Als ich von meiner Familie wegging und herausgefunden habe wer ich wirklich bin, wurde ich immer selbstbewusster und stärker. Jetzt bin ich in dem Körper, der meinem Geiste entspricht.

Gemerkt habe ich das bereits mit vier Jahren im Kindergarten. Ich habe gemerkt, dass irgendwie etwas anders ist mit mir. Ich habe mich mehr mit den Jungs gerauft. Auch hatte ich einen guten Kumpel, mit dem ich viel lieber spielte. Und ich habe dann schon das erste Mal Gefühle für ein Mädchen entwickelt. So habe ich gemerkt, dass etwas anders ist. Ich habe mich auch anders verhalten. Ich saß immer wie ein typischer Junge da, Beine breit und so. Meine Mutter hat dann immer solche Sprüche raus gehauen, wie: „Mach die Beine zusammen, du bist ein Mädchen!“. Meine Adoptivmutter wollte immer ein Mädchen haben. Deshalb hat sie mich in diese Geschlechterrolle hinein gepresst, und ich habe das die ganzen Jahre unterdrückt und mich angepasst. Aber natürlich auch nicht komplett angepasst, z.B. bei meinen Klamotten. Das haben dann auch die Mitschüler gemerkt. Ich wurde die ganzen Jahre in der Schule gemobbt. Nach der Schulzeit habe ich Kontakt zu einer ehemaligen Klassenkameradin gehabt. Sie hat mir gesagt, dass alle überlegt haben, ob ich lesbisch bin, oder dass zumindest irgendwas mit mir anders ist.

Die Ärztin dort hat zu mir gesagt: „Überlegen Sie doch mal, ob sie nicht vielleicht transsexuell sind.“

Es war für mich auch eine ganz lange Findungsphase. Ich hatte acht Jahre lang eine Beziehung mit einem Mann. Aber das habe ich eher für meine Eltern gemacht. Ich hatte in der ganzen Zeit auch immer Gefühle für Mädchen. Dann kam die Überlegung, ob ich bisexuell bin. Ich habe mich dann von dem Mann getrennt, weil ich eine lesbische Frau kennengelernt hatte. Ich dachte, okay, vielleicht ist es das. Aber das war es nicht. Deshalb ging es auch relativ schnell wieder auseinander. Dann bin ich nach Sangerhausen gezogen. Ich habe eine Therapie in Kelbra gemacht. Dort habe ich eine Frau kennengelernt, die nur auf Männer stand. Ich war damals noch eine Frau, aber war sehr männlich. Da habe ich gemerkt, dass ich auf solche Frauen stehe, auf die „normalen“ Frauen. In Sangerhausen hatte ich allerdings auch eine wirklich blöde Zeit. Ich habe mit Crystal angefangen. Das hat bewirkt, dass ich mich selber verstümmelt habe. Deshalb bin ich in die Klinik gekommen. Die Ärztin dort hat zu mir gesagt: „Überlegen Sie doch mal, ob sie nicht vielleicht transsexuell sind.“, weil meine ganze Geschichte in diese Richtung deutete. Und da kam ich das erste Mal mit diesem Begriff in Kontakt. Ich kannte das vorher überhaupt nicht. Ich wusste gar nicht, dass es so etwas gibt. Dann habe ich mich ein paar Monate damit auseinandergesetzt und festgestellt, dass es genau das ist, was sich stimmig anfühlt.

2014 habe ich mich dann geoutet. Zuerst bei meiner Hausärztin. Danach ging das übliche Prozedere los. 2015 bin ich zum Psychologen nach Leipzig. Der bescheinigt einem dann, dass man transident ist. Dann bekommt man ein Indikationsschreiben für den Hormonarzt. Dort wird erst einmal ein Gentest gemacht. Den bekommt man einmal im Leben kostenlos. Dabei wird festgestellt, ob man genetisch rein weiblich ist, oder ob man eventuell eine Mischform hat. Nur wenn man rein weiblich bzw. rein männlich ist, wird die Hormonbehandlung auch gleich bewilligt. Das wurde dann bei mir so gemacht. Nachdem das erste halbe Jahr Hormontherapie vorbei war, konnte ich die ersten Operationen bei der Krankenkasse beantragen. Bisher habe ich zwei Stück machen lassen. Die letzte will ich aber wahrscheinlich nicht machen lassen. Die dritte OP würde den Aufbau des Geschlechtsteils betreffen. Die OP ist risikobehaftet, deshalb habe ich Angst davor, wie viele andere auch.

Außerdem finde ich, dass das einen Mann nicht unbedingt ausmacht. Wenn ich eine Frau kennenlerne, dann nimmt sie mich so, wie ich bin oder sie lässt es eben bleiben. Von Mann zu Frau ist die Operation einfacher. Die haben es meistens mit einer OP hinter sich. Die erste OP, die ich machen lassen habe, war die Brustentfernung und Formung der männlichen Brust. Die zweite OP war die Hysterektomie, bei der im Prinzip die inneren weiblichen Geschlechtsorgane restlos entfernt werden.

Prinzipiell sind die Reaktionen auf meine Transidentität sehr unterschiedlich.

Meine Hausärztin in Sangerhausen konnte mich eigentlich früher gar nicht so richtig leiden, wegen meiner ganzen psychischen Erkrankungen. Aber als ich ihr erzählte, dass ich transident bin, hat sich das komplett gewandelt. Von da an war sie quasi meine beste Freundin. Dann habe ich mich auch bei ihr wirklich wohlgefühlt. In Zittau habe ich mein „wahres Ich“ versteckt, und ich werde auch nicht zurückgehen. Ich darf auch nicht zurückgehen! Meine Adoptivmutter will das nicht. Sie möchte damit nichts zu tun haben und sie möchte auch nicht, dass die anderen Leute es erfahren. Ich fahre nur einmal im Jahr, zum Totensonntag, dort hin, weil mein Adoptivvater da begraben ist.

Prinzipiell sind die Reaktionen auf meine Transidentität sehr unterschiedlich. Die meisten reagieren sehr gut, aber es gibt natürlich auch Leute, die dagegen sind. Das prallt allerdings mittlerweile ganz gut an mir ab. Zur Not würde ich auch rechtliche Schritte einleiten und zeigen, dass man mit mir so nicht umgehen kann. Ich gehe prinzipiell sehr offen mit meiner Transidentität um. In Sangerhausen habe ich auch schon einen Zeitungsartikel über mich veröffentlichen lassen. Denn ich denke, es macht anderen Mut, wenn man damit an die Öffentlichkeit geht und ihnen zeigt, dass sie damit nicht alleine sind. Denn die Dunkelziffer ist enorm groß. Es gibt so viele, die transident sind, aber Angst haben, es zu zeigen und es dann verstecken. Ich finde das sehr schade. Warum soll man sich für etwas verstecken, was man ist? Ich habe es jahrelang unterdrücken müssen, und das war der Grund, warum bei mir so viel schief gelaufen ist. Ich habe jetzt hier eine Familie gefunden und konnte meine Hobbys zum Beruf machen. Momentan habe ich auch alles im Griff.

... ich möchte mich auch selbst für Inklusion einsetzen.

Ich bin selbst jemand, der eine psychische Behinderung mit sich trägt und es deshalb schwerer auf dem ersten Arbeitsmarkt hat. Ich habe keine abgeschlossene Ausbildung und trotzdem habe ich hier eine Chance bekommen. Das ist für mich Inklusion. Und ich möchte mich auch selbst für Inklusion einsetzen. Ich möchte gerne, dass unsere Firma mehr beeinträchtigte bzw. besondere Menschen aufnimmt. Wir nehmen viele Praktikanten vom RPK auf, das ist die Rehabilitationseinrichtung für psychisch Erkrankte des Klinikums hier aus der Gegend. Ich selbst war nicht im RPK, sondern auf der Psychiatrie-Station, die ich leider nicht empfehlen kann.

Momentan komme ich mit meinen psychischen Erkrankungen gut klar. Aber letztens haben wir in Glauchau John Lennons 80. Geburtstag mit einer Großveranstaltung gefeiert. Grund dafür ist Edmund Thielow, der hier in Glauchau das Beat-Archiv hat, das Beatles Museum. Er sammelt seit Jahren alles Mögliche rund um die Beatles. Mit ihm arbeiten wir schon lange zusammen.

Bei der Veranstaltung war mir kurzzeitig alles zu viel. Mir ist die Kamera vom Stativ gefallen, weil einfach so viel los war. Da habe ich alles stehen und liegen gelassen und bin einfach weg. Ich brauche ab und an einen Ruhebereich, in den ich mich zurückziehen kann. Den haben wir jetzt noch nicht, aber den werden wir schaffen, damit ich mich einfach auch mal kurz ausklinken kann.

Herr Kehrer: Inklusion ist ein ganz schwieriger Sachverhalt. Viele Betriebe bezahlen lieber die Strafe, anstatt Menschen mit einer Behinderung einzustellen. Wir dagegen haben es uns auf die Fahnen geschrieben, dass wir Arbeitskräfte lieber aus dem Inklusionsbereich nehmen. Es ist natürlich ein riesiger Aufwand, den man da betreibt. Wir kennen auch viele Betriebe, die gerne Menschen mit Behinderung einstellen würden, aber die finanziellen Mittel sind sehr gering. Anstatt zu versuchen, Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen mit allen Mitteln in die Werkstatt zu drücken, wäre es eigentlich sinnvoller, wenn der Staat den Betrieben, die wie wir solche Menschen einstellen, das Geld geben würde. In Kombination mit einem Betreuer, der immer mal wieder Kontakt zu den Menschen aufnimmt, wäre das optimal.

Chris: Ich persönlich wünsche mir, dass es so weitergeht, wie es jetzt ist. Ich möchte hier in der Firma bleiben und weiter vorankommen. Normalerweise wäre ich mit meiner psychischen Erkrankung in der Werkstatt gelandet.

Herr Kehrer: Die Presse muss auch über Menschen mit Behinderung und psychischen Krankheiten berichten, denn es ist ein wichtiges Thema. Und es betrifft so viele tausende von Menschen.

Herr Kehrer: Das Problem ist, dass Menschen mit Behinderungen noch nicht in unserer Gesellschaft angekommen sind. Viele Firmen ignorieren Menschen mit Behinderung. Und auch im Alltag werden Menschen mit Behinderungen oft nicht wahrgenommen. Ich sage dann immer, es sind 23 %, die in irgendeiner Art und Weise eine Behinderung haben. Aber die Wahrnehmung ist eine ganz andere. Das liegt vor allem auch daran, dass der Fokus der normalen Presse nicht darauf gerichtet wird. Ein Beispiel sind die Special Olympics, die fast nie in der Presse auftauchen. Und wenn wir Presseartikel rausgeben, dann werden die auf ein bis zwei Zeilen gekürzt. Das sind dann aber nie die Sachen, die wir so geschrieben haben. Deshalb verweigern wir uns mittlerweile der Presse. Für die normale Presse sind Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen einfach kein Thema. Inklusion geht bei mir auch da los, wo die Presse dazu gezwungen wird, darüber zu schreiben. Weil es einfach unter die Bevölkerung muss, was in dem Bereich alles passiert. Die Presse muss auch über Menschen mit Behinderung und psychischen Krankheiten berichten, denn es ist ein wichtiges Thema. Und es betrifft so viele tausende von Menschen.

Chris: Diese Menschen gehören in die Mitte der Gesellschaft und nicht an den Rand.

Herr Kehrer: Die Kampagne „Gesichter der Inklusion“ ist ein tolles Thema, aber man muss es medial noch viel weiter tragen. Die Presse muss darüber berichten!

Link zur Seite "Neues Mitteldeutschland": https://neues-mitteldeutschland.de/

Interview geführt am: 15.10.2020

Interview veröffentlicht am: 26.11.2020