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Fraencine, Dresden

Meine Sehbehinderung und meine Transgeschlechtlichkeit sind ja quasi beides Inklusionsthemen.

Gesichter der Inklusion

Ich bin Fraencine. Ursprünglich komme ich aus Halle, dort habe ich 32 Jahre gelebt. Nachdem aber meine Mutter verstarb, hat mich nichts mehr in Halle gehalten. Weil ich damals das Thema Cosplay für mich entdeckt hatte, dachte ich mir, ich ziehe nach Leipzig, weil dort mehr los ist. Cosplay heißt übersetzt Kostüm-Spiel, es kommt aus dem Japanischen und bedeutet, dass man sich wie Held*innen verkleidet. Zum Beispiel wie Spiderman oder Lara Craft oder andere Anime Figuren. 

Aber irgendwie habe ich in Leipzig keinen Anschluss gefunden. 2020 habe ich mich deshalb entschieden, nach Dresden zu ziehen, was im Nachhinein eine der besten Entscheidungen meines Lebens war. Denn dadurch kam ich in einen coolen und inklusiven Freundeskreis, der mich einfach so respektiert hat, wie ich bin. Zu dieser Zeit habe ich noch nicht offiziell als Frau gelebt. Erst 2022 hatte ich diesen AHA-Moment, der mir die Augen geöffnet hat. Seitdem lebe ich offen als Frau. 

Ab da wusste ich, dass ich auch eine trans Frau bin. Ich war plötzlich wie befreit.

Die Beschreibung Mann passte sowieso nicht zu mir, ich wusste aber auch nicht, wie ich mich betiteln kann. Während eines Stammtischtreffens, bei dem es thematisch um etwas ganz anderes ging, lernte ich eine trans Frau kennen und hatte diesen besagten AHA-Moment. Ab da wusste ich, dass ich auch eine trans Frau bin. Ich war plötzlich wie befreit.

Das Problem war damals, dass man in seine Rolle reinsozialisiert wurde. […] Mit diesen Rollenbildern habe ich mich nie wohl gefühlt. Ich habe zwar oberflächlich mitgemacht, aber im inneren wusste ich, dass irgendwas nicht stimmt.

Ich wusste schon als Kind, dass die Zuschreibung männlich oder Junge in meinem Fall nicht stimmt. Ich wusste aber auch nicht genau, welche Begrifflichkeit passend wäre. Auch wenn ich im Laufe der Jahre von Transgeschlechtlichkeit gehört hatte, war das für mich noch nicht greifbar. Als Kind habe ich ganz gerne mit Barbiepuppen gespielt, weil mich das mehr interessiert hat. Das Problem war damals, dass man in seine Rolle reinsozialisiert wurde. Man sollte als Junge nicht mit Barbies spielen, weil es nicht männlich ist. Ich wäre als Kind auch gerne zum Ballett gegangen, aber auch dort wurde gesagt, dass es nur etwas für Mädchen wäre. Mit diesen Rollenbildern habe ich mich nie wohl gefühlt. Ich habe zwar oberflächlich mitgemacht, aber im inneren wusste ich, dass irgendwas nicht stimmt. Diese Gefühle kamen immer in Schüben. Als Kind von circa neun Jahren stand ich am Anfang meiner Pubertät und habe mich gefragt: „Warum kann ich nur Hose und T-Shirt tragen?“ Es muss doch noch viel mehr Kleidungsstücke geben. Aber es hieß immer: „Kleider tragen nur Frauen!“

Ich habe diese ganzen Gedanken verdrängt und gedacht: Das ist nur eine Phase. Aber mit Mitte 20 habe ich damit begonnen, meinen Kleidungsstil zu ändern. Hose und T-Shirt fand ich langweilig, deshalb bin ich auf Männer-Leggins umgestiegen. Das hatte auch immer noch das Label „männlich“. Ich konnte also rumprobieren, konnte aber immer noch sagen, dass die Klamotten für Männer sind, wenn mich jemand blöd angemacht hat. Das war mir damals wichtig. Ich habe mich aber selbst immer in Frage gestellt und wusste nicht, was ich mir zuschreiben kann. Bis es 2019 die Möglichkeit gab, auf dem Ausweis ein neues Geschlecht eintragen zu lassen - nämlich divers. Da dachte ich mir: Das klingt schon treffender. So ganz einverstanden war ich aber immer noch nicht. Zu der Zeit konnte ich schon feststellen, dass mich beim Cosplay viele als Frau identifizierten und überrascht waren, wenn sie feststellten, dass ich männlich bin. Mir hat das aber schon Freude bereitet, dass ich als weiblich gelesen wurde. 

Mittlerweile habe ich als Geschlechtseintrag „weiblich“. Damals habe ich mich sehr an biologische Definitionen gehalten. Biologisch bin ich ja aber ein Mann. Mir wurde mal die Frage gestellt, ob ich auch eine Frau mit Penis daten würde. Da habe ich gesagt, dass es mir grundsätzlich um die Person geht, aber eine Frau mit Penis ist mir nicht bekannt. Das war keine gute Antwort, denn daraufhin habe ich einen Shitstorm von Transpersonen geerntet. Was ich später auch verstanden habe. Ich wurde das erste Mal darauf hingewiesen, dass es trans Frauen gibt. Das konnte ich mir selbst aber immer noch nicht zuschreiben. Zumindest war mir aber ab da der Begriff bekannt. 

Im Jahr 2021 habe ich dann für mich ein Projekt gestartet und all meinen Mitmenschen gesagt, dass ich ab sofort Fraencine genannt werden möchte. Ich fühlte mich damals immer noch nichtbinär, weil ich mich noch nicht einem Geschlecht zuordnen konnte. Als ich dann aber damals bei diesem Stammtisch mit einer trans Frau ins Gespräch gekommen bin, habe ich für mich realisiert, dass ich auch eine trans Frau bin. Und ich hatte auf einmal eine Antwort auf so viele Fragen. Ich musste auch sofort allen erzählen, wer ich bin - ich bin trans. Auch wenn in meinem Ausweis noch männlich steht, benutzt bitte die Pronomen Sie/Ihr. Ich fühlte mich viel freier.

 […] 2023 habe ich mit der Hormonersatztherapie angefangen.

2023 habe ich dann über eine Influencerin names „finessi“, die selbst eine trans Frau ist und viele Beiträge zu politischen und inklusiven Themen macht, erfahren, dass es vom DGTI e.V. (Deutsche Gesellschaft für Trans*- und Inter*geschlechtlichkeit e. V.) den Ergänzungsausweis gibt. Das fand ich richtig cool und habe gleich den Ausweis beantragt. Nach nur zwei Wochen war er da und das hat mir so einen positiven Schub gegeben, dass ich noch 2023 mit der Hormonersatztherapie angefangen habe. Allerdings nicht so, wie es im Regelfall ablaufen sollte. 

Normalerweise braucht man, bevor man mit der Hormonersatztherapie beginnen kann, mehrere Gespräche mit einer Psychologin. In der Regel ist es so, dass man sich eine Psychotherapeutin sucht, die auf die Thematik spezialisiert ist. Dann lernt man sich kennen und schaut, ob man eine gute Vertrauensbasis hat. Nach fünf gemeinsamen Sitzungen entscheidet man dann, ob es gemeinsam weitergehen soll. Erst wenn die Therapeutin keinen Zweifel daran hat, dass man transgeschlechtlich ist, bekommt man das Indikationsschreiben für die Hormonersatztherapie. 

Bis man also die Hormonersatztherapie offiziell bekommt, dauert es locker ein Jahr. Ich wollte aber kein Jahr warten, weil mein Leidensdruck so groß war. Deshalb war es bei mir ein wenig anders. Ich hatte das Glück, dass ich über eine in der EU ansässigen Apotheke an die nötigen Hormone gekommen bin. Ich musste dafür einen Fragebogen ausfüllen, der von Ärzt*innen bewertet wurde. Von denen habe ich dann das Rezept für die Hormon-Präparate erhalten. Abholen konnte ich mir die Hormone in einer deutschen Apotheke. Daraufhin konnte ich im Herbst 2023 auf eigene Faust mit der Hormonersatztherapie anfangen. Ich habe das ein Jahr lang durchgezogen, was natürlich auch kostenintensiv war. Mittlerweile habe ich glücklicherweise eine Therapeutin gefunden, die mich begleitet. 

Ich nehme nun seit 2023 das Östrogen-Gel und den Testosteronblocker, wobei der Testosteronblocker nicht die Produktion des Testosterons behindert, sondern nur die Wirkung. Als ich damit begann, fühlte ich mich dann so richtig wohl. Ich bemerkte relativ schnell Veränderungen, das heißt Brustwachstum, Fett-Umverlagerung, nachlassender Bartwuchs. Es kann auch, je nach Person, zu erektionalen Dysfunktionen kommen beziehungsweise Libido-Veränderungen und Muskelabbau. Aber das sind alles Dinge, die ich in Kauf nehme, weil ich mich zu dem angleiche, was ich sein möchte.

Ich bin Grundschullehrerin an einer freien Schule in Dresden.

Ich habe nie ein Geheimnis darum gemacht, wer ich bin. Meine Schulkinder lernen als erstes, dass ich eine trans Frau bin, damit das im Alltag Normalität erreicht. Ich bin Grundschullehrerin an einer freien Schule in Dresden und unterrichte Deutsch, Mathematik und Sachkunde in den Klassenstufen eins bis drei und das jahrgangsheterogen, also ohne feste Klassen. Wir lernen gemeinsam, so dass die älteren Schüler*innen den jüngeren auch helfen können. 

Meine Schule steht für Offenheit. Ich hatte mich damals unter meinem „Deadname“ (Bezeichnet den Vornamen einer Person, der bei der Geburt zugewiesen wurde, aber nicht mehr verwendet wird.) beworben und wurde deshalb erst einmal mit „Herr“ angesprochen. In einem kleinen Nebensatz habe ich dann aber gesagt, dass ich als Frau angesprochen werden möchte. Das haben sich die Anwesenden sofort gemerkt. Und anscheinend habe ich in meinem Vorstellungsgespräch überzeugt, so dass ich im Sommer 2023 dort als Lehrerin angefangen habe. Später haben mich meine neuen Kolleg*innen gefragt, wie ich gern angesprochen werden möchte. Auch mein Account wurde entsprechend angelegt. Das war für mich ein echter Wow-Moment und ich habe mich sofort wohl gefühlt. Alle anderen Kolleg*innen wurden dann noch in einer Dienstberatung aufgeklärt und ab war es kein Thema mehr. 

Den Kindern habe ich das auch so vermittelt, die kennen meinen alten Namen gar nicht. Ich habe ihnen erklärt, dass sie mich als ihre Lehrerin kennen, obwohl ich vielleicht noch männlich wirke. Ich erkläre es damit, dass ich mich erst seit kurzem an eine Frau angleiche, aber schon länger als trans Frau lebe. Ich erkläre es kurz und knackig, so dass es für die Kinder Alltag ist. Das funktioniert auch gut, denn unsere Schule ist eine sehr tolerante und offene Schule und das merkt man auch an den Kindern. In einer Schulveranstaltung, bei der alle Klassen von 1 bis 12 da waren, habe ich mich bei der Schule bedankt, dass ich so sein kann wie ich bin. Das Schöne ist, wir haben ja auch nicht-binäre Schüler*innen, Trans-Jungen und Trans-Mädchen. 

[…] seit Geburt an habe ich einen Kongenitalen Nystagmus, eine an das X-Chromosom gebundene Erbkrankheit.

Ich habe in Halle Lehramt für Förderschulen studiert. Dort habe ich auch mein erstes Staatsexamen gemacht und war im Referendariat für das zweite Staatsexamen. Das habe ich aber aus diversen Gründen abgebrochen und bin 2018 nach Leipzig gezogen. Dort wollte ich 2019 noch einmal ins Referendariat gehen. Und das war der Punkt, an dem meine Behinderung ins Spiel kommt. Denn seit Geburt an habe ich einen Kongenitalen Nystagmus, eine an das X-Chromosom gebundene Erbkrankheit. Mein Opa hatte es, meine Mutter trug es in sich und hat es an mich weitergegeben. In Sachsen-Anhalt galt ich als gesund, in Sachsen wiederum braucht man eine hausärztliche oder amtsärztliche Untersuchung, bevor man ein Referendariat beginnen kann. Das kannte ich aus Sachsen-Anhalt nicht. Es begann eine lange Ärzt*innen Odyssee an deren Ende festgestellt wurde, dass ich auf Grund meiner Augen eine Assistenz bräuchte. Mir wurde quasi nahegelegt, dass ich alleine kein selbstbestimmtes Leben führen könnte. Danach hatte ich tausend Fragezeichen im Kopf. Seit 2009 führe ich alleine einen eigenen Haushalt, ich habe Strategien entwickelt, wie ich meine Behinderung kompensieren kann. Ich führe ein selbständiges Leben!

Ich habe alle möglichen Gutachten erstellen lassen und dann hieß es auf einmal: Ja wir können sie doch zum Referendariat zulassen. Das fand ich dann erstmal ziemlich gut. Mir wurde eine Schule in Dresden zugewiesen. Dann habe ich mir eine Wohnung in Dresden gesucht, den Umzug geplant, aber plötzlich kam die Nachricht: Auf Grund ihrer Augen müssen wir darauf bestehen, dass sie eine Assistenz erhalten. Für das anstehende Referendariat können wir in der kurzen Zeit aber keine Assistenz zur Verfügung stellen, deshalb können wir sie zum Referendariat nicht zulassen. Dass ich schon 1,5 Monatsmieten für eine Wohnung bezahlt habe, die ich nie bezogen habe, das war denen egal. 

Damit war ich komplett raus aus dem Referendariat und musste weiter in Leipzig im Call-Center arbeiten. Ich war so demotiviert. Ich hatte mich monatelang von Ärztin zu Ärztin bewegt, um alles einzureichen und dann wurde mein Traum mit einem Mal in Schutt und Asche gelegt. Als ich später nach Dresden gezogen bin, habe ich noch einmal versucht, mich für ein Referendariat zu bewerben. Da hieß es aber weiterhin, dass ich eine Assistenz brauche, die sie mir aber nicht stellen können. 

Ich entdeckte eine Anzeige, die mich sofort angesprochen hat: „Neugierige Grundschüler*innen suchen nach Grundschulpädagog*innen.“ 

Auf der Suche nach einem passenden Job, bin ich irgendwann zur Berufsberatung gegangen. Dort wurde mir empfohlen, beim Arbeitsamt zu schauen, ob es etwas passendes für mich gibt und das habe ich im Jahr 2023 getan. Ich entdeckte eine Anzeige, die mich sofort angesprochen hat: „Neugierige Grundschüler*innen suchen nach Grundschulpädagog*innen.“ 

Ich habe all meine Energie in die Bewerbung für diesen Job gesteckt. Ich habe mir die Webseite der Schule angeschaut und mir das Lernkonzept eingeprägt. Dass es ein sehr selbstorganisiertes Lernen ist, dass es Wochenpläne gibt, die dann nach Belieben abgearbeitet werden. Es wird nicht festgelegt, wir machen jetzt Mathe und dann Deutsch, sondern das machen die Schüler*innen frei. 

Bei der Bewerbung habe ich meine Behinderung auch nicht als Handicap gesehen, sondern als Ressource. Denn auf Grund meiner eigenen Behinderung gelingt es mir, mich in andere Kinder mit Behinderung hineinzuversetzen und den Förderbedarf zu erkennen. Meine Bewerbung hat überzeugt, das Vorstellungsgespräch hat eineinhalb Stunden gedauert und war sehr wertschätzend. Die waren überrascht, wie gut ich mich vorbereitet habe. Ich konnte also alle Anwesenden überzeugen, so dass ich dann meinen Call-Center Job schnell kündigen konnte. 

Ich bin glücklich, wo ich bin. Der Weg in die freien Schulen ist für mich auch der inklusive Weg.

In meiner Schule benötige ich keine Assistenz und das war auch nie Thema. Der Weg in die „Regelschule“ bleibt mir weiterhin verwehrt, aber ich will das auch gar nicht mehr. Ich bin glücklich, wo ich bin. Der Weg in die freien Schulen ist für mich auch der inklusive Weg. Der exklusive Weg, ist der, den ich mal mit meinem Studium geplant hatte, den ich aber jetzt nicht mehr gehen werde. Damals dachte ich, dass das Lehramtstudium das richtige wäre, denn wir haben akuten Lehrer*innen-Mangel. Deshalb war es mir auch nicht erklärbar, warum ich am Ende in Sachsen abgelehnt wurde. 

Im Studium wurde mir wiederum nie gesagt: Sie sind nicht geeignet. Ich habe extra Lehramt für Förderschulen studiert, dort konnte ich meine Behinderung schon als Ressource nutzen. Anfangs hatte ich das noch gar nicht so verstanden, aber eine Dozentin meinte mal zu mir: Ach, da haben wir ja einen Experten hier. Du hast eine eigene Behinderung und bist damit Experte in eigener Sache. Das habe ich im Studium gelernt, dass es die Disability-Studies gibt, was bedeutet, dass das Expertenwissen von Betroffenen ausgeht und nicht von den Forschenden. 

In unserer Schule haben wir auch Inklusions-Kinder mit individuellem Förderbedarf. Das funktioniert sehr gut und entspricht dem Inklusionsgedanken, dass Kinder mit einer Behinderung nicht nur auf die Förderschule geschickt werden, sondern eine ganz normale Teilhabe am Schulleben haben. Wir haben so ein hochdifferenziertes Schulsystem, was enorm teuer ist. Wir bräuchten mehr Personal, damit wir mehr in die Inklusion kommen, damit Menschen ohne Behinderung von Menschen mit Behinderung lernen können. 

Ich war in Halle auf dem Landesbildungszentrum für Blinde und Sehbehinderte und ich wusste, dass meine Augen schlechter sind, aber es war für mich nie eine Behinderung, bis ich in der Pubertätsphase festgestellt habe, dass es Menschen gibt, die einen dafür verachten, dass man eine Behinderung hat und sich über einen lustig machen. Für mich war das normal, dass ich an der Haltestelle ganz nah an den Fahrplan ran gehe, um zu sehen, wann die Straßenbahn kommt. Ich halte auch mein Handy nicht gerade, sondern leicht nach links gedreht. Es gibt eine Kopfzwangshaltung, bei der das Zittern am ruhigsten für die Augen ist und diese Haltung nimmt man dann ein. Aber darüber haben sich dann andere lustig gemacht und gesagt: Du guckst schief. Für mich war das normal. Ich habe gar nicht verstanden, was sie meinten. 

Es ist prinzipiell schwer zu erklären, was ich sehe. 

Es ist prinzipiell schwer zu erklären, was ich sehe. Ich habe eine Vorstellung davon, wie es für andere aussehen könnte. Wenn zum Beispiel irgendwo hinten auf einer Wand ein Text steht, dann können das alle lesen nur ich muss ganz nah rangehen, um es zu erkennen. Bei mir ist es das starke Augenzittern, diese Unruhe, die mein Gehirn permanent ausgleichen muss. An richtig schlechten Tagen ist es beispielsweise so, dass sich Gegenstände ständig schlangenartig bewegen und gerade Linien schief sind. Mein Kopf will dann einen geraden Blick, aber wird durch das Augenzittern ausgetrickst und dann fängt mein Kopf an zu zittern, ohne dass ich es bemerke. Ich denke dann ich halte meinen Kopf gerade und still, aber ich bewege mich dann ständig. 

Kopfschmerzen bekomme ich zum Glück nur selten, einfach weil ich es von Geburt an gewohnt bin. Aber Erschöpfung kann schon vorkommen. Deswegen ist Lesen nicht immer das Einfachste für mich. Ich kann sehr gut lesen. Wenn es aber manchmal sehr viel ist, wird es anstrengend, weil der Kopf permanent den Fokus hat und vieles ausgleichen muss, damit man alle Wörter gut erkennt. Das kann schon zu einer schnelleren Ermüdung führen. Das habe ich dann auch in meiner Schulzeit gemerkt, dass ich nach manchen Tagen mit viel Lesen ziemlich platt war. 

Ich war von der 1. bis zur 10. Klasse am Landesbildungszentrum für Blinde und Sehbehinderte. Danach habe ich mich entschieden, und das war auch ein wichtiger Punkt in meinem Leben, keine Ausbildung im Berufsbildungswerk Chemnitz zu machen. Es wurde mir sehr nahegelegt, weil das Berufsbildungswerk besonders für Menschen mit Sehbehinderung ausgelegt ist. Dort hatte ich eine Arbeitsprobe für zwei Wochen als Kauffrau für Bürokommunikation. Aber als ich mein 10. Klasse Halbjahreszeugnis bekommen habe und dort nur Einsen und Zweien drauf waren, hat mich meine Lehrerin gefragt, ob ich nicht das Gymnasium besuchen möchte. Sie hat mir geraten es zu probieren, denn was soll passieren? Den 10. Klasse Abschluss hatte ich in der Tasche, wenn es auf dem Gymnasium nicht funktioniert. Da dachte ich mir, dass ich nur gewinnen kann und habe den Antrag für das Gymnasium ausgefüllt. Daraufhin wurde der Nachteilsausgleichplan erstellt und ich bin zum Südstadt-Gymnasium in Halle gewechselt. Ich konnte dann selbst festlegen, ob ich ¼ oder 1/3 mehr Zeit für die Aufgaben in Anspruch nehme, je nachdem wie es mir an einem Tag geht. Ich habe beispielsweise auch vergrößerte Kopien bekommen und an der Tafel wurde mit gelber Kreide geschrieben, damit ich es besser erkennen konnte. 

Knackpunkt auf dem Gymnasium war: Am Anfang wurde ich natürlich ein bisschen beäugt und man war sich nicht sicher, ob ich denn richtig dort bin. Eine Person meinte: Du schaffst doch das Abitur sowieso nicht, du bist doch behindert. Wo ich gedacht habe: Moment, was hat meine Sehleistung mit meiner Denkleistung zu tun. Gar nichts! Ja, ich brauche vielleicht länger, um gewisse Dinge visuell zu erfassen, das hat aber nichts damit zu tun, dass mein Gehirn langsamer ist. Drei Jahre später habe ich die Person nach der mündlichen Bio-Prüfung wiedergetroffen und gefragt, wie es denn gelaufen sei. Sie meinte dann nur, dass sie das Abitur nicht geschafft hat. Ich dagegen, hatte mein Abitur in der Tasche.

Ich möchte, dass die Leute respektieren, dass ich eine biologisch zugrunde liegende Schädigung habe.

Man wird ja eher behindert gemacht. Ich möchte, dass die Leute respektieren, dass ich eine biologisch zugrunde liegende Schädigung habe. Sie hat Auswirkungen auf meinen Alltag, ich bin es aber schon von Geburt an so gewohnt und natürlich entwickle ich Strategien, wie ich meinen Alltag für mich bewältige. Beispielsweise nehme ich beim Putzen nicht alles wahr und vergesse vielleicht ein paar Krümel, aber wenn mein Partner da ist, sagt er mir einfach, welche Ecke ich vergessen habe. Das ist am Ende kein Problem. Und mit den heutigen technischen Möglichkeiten, kann man auch viele andere Dinge gut bewältigen.

In meiner Schule findet kaum frontaler Unterricht statt, es sei denn ich führe ein neues Thema ein. Das heißt die Kinder haben einen Wochenplan mit ihren Aufgaben und arbeiten diese in ihrem Tempo ab. Ich habe Kinder in der ersten Klasse, die Aufgaben der zweiten Klasse rechnen können. Dann sage ich nicht, dass es das nicht darf. Denn es geht ja auch darum, die Talente zu fördern, ohne die anderen Bereiche zu vernachlässigen. In meiner Lerngruppe ist beispielsweise ein Kind mit ADHS, das dann auch individuelle Lernpausen bekommt. Den anderen Kindern muss man das natürlich erklären. Ich versuche die Bedürfnisse des Kindes zu berücksichtigen. Das ist die Stärke unserer Schule, weil wir auf jedes Kind individuell eingehen. Deshalb ist es auch kein größerer Schritt, auf spezielle Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Das stelle ich mir unter Inklusion vor. Es soll keine Extralast sein, sondern Inklusion soll für alle normal sein. 

Meine Sehbehinderung und meine Transgeschlechtlichkeit sind ja quasi beides Inklusionsthemen. Ich kann aber gar nicht sagen, was besser akzeptiert wurde. Wahrscheinlich bekomme ich das auch gar nicht mehr mit, weil das mein normaler Alltag ist. Meine Sehbehinderung ist vielleicht nicht das aller offensichtlichste, im Gegensatz zu meinem sonstigen Erscheinungsbild. Obwohl ich schon froh bin, dass mich viele als weiblich lesen. Meine Sehbehinderung ist eher vorrangig, wenn es um den Haushalt geht, oder ich etwas lesen soll. Aber meine Kinder wissen das auch und es ist für sie auch nichts Besonderes. 

Mir ist es auch wichtig zu zeigen, dass man mit einer Behinderung nicht automatisch in eine Werkstatt oder ins Berufsbildungswerk Chemnitz muss. Ihr müsst nicht nach Königs Wusterhausen, um dort euer Abitur zu machen. Klar braucht es diese speziellen Einrichtungen, aber es war nicht mein Weg. Meiner damaligen Klassenlehrerin bin ich dafür sehr dankbar. Sie war für mich total menschlich und ich hatte einen guten Draht zu ihr. Damals war ich schon in der queeren Szene unterwegs, dachte damals noch, dass ich homosexuell bin. Sie hat mich dabei unterstützt und hat mir mit dem Einverständnis meiner Eltern, Material mitgegeben. 

Für mich ist es deshalb wichtig zu transportieren, dass man zwar mit einer Behinderung eine höhere Herausforderung im Alltag hat, auch durch die Stigmatisierung, aber wenn man sich reinhängt, stehen einem viele Türen offen.

Für mich ist es deshalb wichtig zu transportieren, dass man zwar mit einer Behinderung eine höhere Herausforderung im Alltag hat, auch durch die Stigmatisierung, aber wenn man sich reinhängt, stehen einem viele Türen offen. Dann kann man auch Abitur machen und studieren. 

Nicht alles sehen zu können, kann auch ein Vorteil sein. Aber wenn ich angestarrt werden, dann merke ich das schon. Es interessiert mich größtenteils nicht, denn ich bin ich. Ich lebe ja nicht für die anderen, sondern für mich. Ich habe natürlich lange gebraucht, um meinen eigenen Weg zu finden. Deshalb lasse ich mich von den Blicken andere nicht beirren, ich merke dann eher, dass ich deren Denkmuster völlig über den Haufen werfe. Ich will mich nicht mehr verbiegen. Ich habe meinen Kleidungsstil und ich fühle mich wohl damit. Es ist mit total egal, wenn mich Leute schief anschauen. Mehr als Blicke und verbale Äußerungen sind bisher zum Glück nicht passiert. Die Person, die mich angreifen will, sollte sich das auch zweimal überlegen, denn ich mache Selbstverteidigung. Das mache ich, um mich selbst zu schützen, wenn andere Mittel nicht helfen. Aber bisher habe ich das nicht gebraucht. 

Ich bin für Aufklärung, deshalb habe kein Problem darüber zu sprechen. Bezüglich meiner Transgeschlechtlichkeit, kann man neben der Hormonersatztherapie auch genitalangleichende Maßnahmen ergreifen. Es ist nicht so, dass durch eine Operation eine plötzliche Umwandlung stattfindet, vielmehr eine schrittweise Angleichung. In meinem Fall heißt das, aus dem Penis wird einer Klitoris angeglichen und es wird eine Neovagina geschaffen. 

Ich leite noch ehrenamtlich den „Trans-Talk 26plus“, da bekomme ich auch einiges mit. Manche machen noch im Gesicht eine FFS (female face surgery), also gesichtsangleichende Maßnahmen. Aktuell ist das nichts für mich, ich nehme weiterhin die Hormone und mache Stimmtraining und in der Zukunft ist die genitalangleichende Operation geplant. Die Östrogene muss ich mein Leben lang nehmen. Nach der genitalangleichenden OP muss ich aber keine Testosteronblocker mehr nehmen, weil der Hoden ja nicht mehr da ist. 

Am Ende meiner Angleichung habe ich dann beide Perspektiven kennengelernt, was total spannend ist. Ich merke jetzt schon, was sich durch die Hormontherapie ändert, beispielsweise die Libido. Und darüber muss man auch sprechen. Ich bin mittlerweile nicht mehr zeugungsfähig, weil keine funktionieren Spermien mehr produziert werden. So was ist ja auch wichtig zu wissen. 

Ich freue mich darauf, wenn in ein paar Jahren die Geschlechtsangleichung ansteht. Ich bin mir zu 100 % sicher, dass ich das will. Wie es danach ist, wird man sehen. Aber ich werde mir dafür psychologische Begleitung suchen. Es wird eine aufregende Zeit. 

Zum Thema Selbsthilfe fällt mir unser Trans-Talk ein, der ein Save-Space für dieses Thema ist. Wir treffen uns dazu persönlich und besprechen verschiedenste Trans-Themen. Das ist eine gemütliche Runde. Dieser Austausch ist für mich Selbsthilfe. Die Teilnehmenden bekommen eine Einladung.  Es ist auch etwas anderes, wenn man sich persönlich trifft, als wenn man im Internet recherchiert. Es ist wichtig, die Informationen direkt von Personen zu erhalten. Wir tauschen uns auch über DisCord aus. Dort kann man chatten, aber auch reden, mit und ohne Videoübertragung. Diese Art des Austauschs war besonders zu Coronazeiten sehr beliebt. Da haben wir uns als Freundeskreis quasi online getroffen und geredet oder auch Spiele gespielt. Das waren wilde Zeiten. 

Bezüglich meiner Seheinschränkung bin ich aber nie mit anderen in den Austausch gegangen. Wahrscheinlich, weil ich meinen Weg gefunden hatte. Für mich ist es jetzt eher die Vorbildfunktion zu zeigen, wo ich jetzt stehe, trotz meiner Behinderung. Ihr müsst euch nicht mit dem zufrieden geben, was euch angeboten wird. Fragt nach, hinterfragt es. Man kann so vieles machen. Das schlimmste finde ich, wenn Menschen mit Behinderung abgeschoben werden, in die Werkstatt gesteckt werden. Ich habe nichts gegen das Berufsbildungswerk, aber ich fand es schade, dass einem scheinbar nur dieser Weg offenstand, dass einem das indoktriniert wurde: „Du musst dorthin.“ Oder du musst nach Königs Wusterhausen zum Abi. Aber ich wollte doch gar nicht weg aus Halle, ich habe mich dort wohlgefühlt. Meine Familie und meine Freunde waren dort, warum also dort weggehen, ich habe das nie begriffen. Ich will die Leute zum Denken anregen und dass sie sich nicht alles gefallen lassen. Egal ob es um Ausbildung oder Sexualität geht. Man muss sich manchmal durchbeißen. Es ist nicht immer einfach. 

Ich habe zwar eine Schädigung, aber wie sehr ich behindert werde, hängt von der Gesellschaft ab. Man ist nicht behindert, man wird behindert gemacht. 

Abschließend möchte ich sagen, dass wir weg von der Defizitorientierung und hin zur Ressourcenorientierung müssen.

Abschließend möchte ich sagen, dass wir weg von der Defizitorientierung und hin zur Ressourcenorientierung müssen. Das wäre inklusiv. Wir Menschen mit Behinderung sind die Expert*innen für unsere Behinderung, gerade wenn es darum geht, wie es sich auf den Alltag auswirkt. Das wissen wir besser als Mediziner. Wir wissen, welche Barrieren es gibt, wo uns der Alltag erschwert wird und was sich ändern muss. 

Ich erwarte einfach, dass wir Inklusion weiter ausbauen in Form von Teilhabe, dass alle Menschen mit einbezogen werden. Bei der Integration war es ja so, dass behinderte Menschen dabei sind und mitschwimmen. Aber die Inklusion bedeutet aktive Teilnahme an der Gesellschaft und das Behinderung als Ressource gesehen wird, um auch mal Dinge aus einer anderen Sichtweise zu sehen. Das ist das, was ich mir wünsche. Man kann nur dazulernen.

Weiterführende Informationen zum Thema sexuelle und geschlechtliche Vielfalt:

Gerede e.V. Homepage: https://gerede-dresden.de/

Interview geführt am: 18.02.205

Interview veröffentlicht am: 22.07.2025