Helene, Lauta in der Lausitz
Mama: Wir sind Familie Klein. Das ist Helene. Sie ist acht Jahre alt und hat Achromatopsie. Das ist eine genetische Krankheit, bei der im Auge die Zapfen fehlen, die für das Farbsehen zuständig sind. Deshalb kann Helene keine Farben sehen. Sie sieht alles nur in schwarz-weiß. Sie hat auch nur eine ganz kleine Sehstärke von 8 %. Dann hat Helene noch einen Nystagmus (Augenzittern) und eine extreme Lichtempfindlichkeit. Deshalb ist es gerade etwas Besonderes, dass sie mit der hellen Brille rumläuft, eigentlich hat sie immer ihre Sonnenbrille auf.
Bis wir herausgefunden hatten, was Helene genau hat, war es ein ganz langer Weg.
Helene hat drei verschiedene Brillen, eine mit dunklen Gläsern, eine mit roten Gläsern, wenn „muschebubu“ Licht ist, und wenn es ganz dunkel ist, dann hat sie auch mal die helle Brille auf, so wie jetzt. Das ist aber extremst selten.
Bis wir herausgefunden hatten, was Helene genau hat, war es ein ganz langer Weg. Das ist auch das Problem bei dieser Krankheit. Wir haben quasi den Ärzten alle vier Krankheitsmerkmale auf dem Silbertablett präsentiert, und trotzdem hat es keiner erkannt.
Ganz am Anfang, da war sie drei Monate alt, hatte sie den Nystagmus. Und das hat mich wahnsinnig gemacht. Deshalb bin ich zur Kinderärztin gegangen. Die hat uns dann zu einer Spezialistin hier in der Region geschickt, wo wir ein Gehirn-Screening machen sollten. Diese Spezialistin hat mir dann an einem Freitag um 12:30 Uhr, also zu einer Zeit wo sonst schon alle Ärzte und Praxen zu haben, gesagt: „Ihr Kind ist blind.“ Daraufhin habe ich immer wieder gesagt, das Kind sieht was. Doch die Ärztin meinte, dass Helene nur auf meine Stimme reagieren würde. Und ich stand da und wusste gar nicht was ich machen sollte. Das war damals „sehr“ sensibel, damit habe ich heute noch zu kämpfen.
Ich bin dann geschockt aus der Praxis raus, hab nur noch geheult, wusste nicht was los ist und dann fing die ganze Prozedur an. Nachdem ich mich wieder gefangen und mit meinem Mann telefoniert hatte, habe ich die Sonderrufnummer 116117 angerufen, über die man nach einem Spezialisten fragen kann. Wir hatten das Glück, dass das Augen-MVZ Lausitz in Hoyerswerda gleich für Montag früh einen Termin für uns hatte. Zeitgleich habe ich dann noch in Dresden am Uniklinikum einen Termin bekommen, der war dann aber erst Monate später.
Keiner wusste was Helene hat, obwohl ich irgendwann alle Symptome auf dem Silbertablett präsentieren konnte.
Die wichtigste Information war dann Montag für uns: „Helene ist nicht blind, aber sie hat irgendwas.“ Das gleiche Ergebnis gab es auch an der Uniklinik in Dresden. Wir waren dann monatelang immer wieder zu Terminen an der Uniklinik, aber sie konnten nichts herausfinden. Wir fühlten uns dort nicht gut behandelt. Ich bin jedes Mal heulend rausgegangen. Einmal wurden wir sogar angeschrien, das Kind wurde angeschrien, mein Vater wurde angeschrien. Man schickte uns dann zu den Genetikern an der Uniklinik, die aber auch nichts herausfinden konnten. Die waren aber nett. Im SPZ waren wir auch, da war Helene zwei Tage auf Station. Ich habe in der Zeit von Augentumor bis hin zu Gehirntumor alles zu hören bekommen. Zum Glück konnten sie das alles ausschließen.
Keiner wusste was Helene hat, obwohl ich irgendwann alle Symptome auf dem Silbertablett präsentieren konnte. Denn parallel zur Diagnostik hatten wir schon mit der Frühförderung begonnen und sind dann damit irgendwann in Chemnitz gelandet. Die Frau, die mit uns Frühförderung gemacht hatte, hat spezielle Tests durchgeführt und dadurch herausgefunden, dass Helene farbenblind ist. Sie meinte: „Irgendetwas ist mit den Farben nicht in Ordnung, sie sieht das nicht.“
Weil wir mit der Uniklinik in Dresden unzufrieden waren haben wir uns von unserer Frühförderin Tipps geholt und sind so bei Frau Dr. Bau in Dresden gelandet. Sie ist eine ganz tolle Augenärztin und hat auch gleich gesagt: „Ich weiß nicht was das Kind hat, aber ich kann sie nach Gießen weiterleiten.“ Also sind wir nach Gießen gefahren, da war Helene mittlerweile schon vier Jahre alt.
Wir sind auf Grund der Vorgeschichte völlig ohne Erwartungen nach Gießen gefahren. Vor Ort sind wir zur Orthoptistin gekommen, die erstmal keine Unterlagen von uns hatte und sich fragte was wir denn hier wollen. Ich hatte aber glücklicherweise alles mit, was wir bis dato an Untersuchungsergebnissen hatten. Und dann wurde die Orthoptistin lockerer.
Von den sechs Stunden, die wir dort waren, sind wir fünf Stunden von Ärzten betreut worden. Die haben dort sehr viele Tests gemacht. Und das Faszinierende für mich war, dass wir dann zum Professor der Stationsleitung gekommen sind. Der guckte sich alles in Ruhe an, nahm sich Helene und ist mit ihr in die Sonne gegangen. Dann hat er einfach verschiedene Kantenfiltergläser genommen und dem Kind vor die Augen gehalten. Und als er dann die roten Gläser hatte, sagte er: „Gucken sie mal, die Augen gehen auf.“ Das fand ich total faszinierend, dass sie die Augen aufmachte und etwas gesehen hat. Der Arzt hat uns dann gesagt: „Ihr Kind hat Achromatopsie.“ Ich frage dann: „Was hat sie?“ Ich wollte wissen, was das bedeutet. Hat sie eine geringere Lebenserwartung? Kann sie in die Schule? Er hat uns alles erklärt und sagte, dass sie ein ganz normales Leben führen kann. Dann bin ich erstmal positiv zusammengebrochen. Für mich war das eine richtige Erleichterung. Wir haben uns dort so gut aufgenommen und wohl gefühlt. Alle haben sich so viel Mühe gegeben. Einige Monate später kam dann noch die Bestätigung der genetischen Untersuchung, dass es wirklich Achromatopsie ist. Die Odyssee der Diagnostik war damit dann glücklicherweise beendet.
In Deutschland sind ca. 3000 Fälle dieser Krankheit bekannt. Es ist eben ein ganz seltener Gendefekt.
Von da an wussten wir was es ist und konnten damit umgehen. In Deutschland sind ca. 3000 Fälle dieser Krankheit bekannt. Es ist eben ein ganz seltener Gendefekt, eine Laune der Natur. In unseren Familien kam die Krankheit bisher nicht vor, wir wurden dann aber alle getestet und dabei stellte sich heraus, dass mein Mann und ich die Veranlagung haben und es quasi dann zusammen an Helene weitergegeben haben. Helene kann es jetzt theoretisch auch weitervererben, es muss aber nicht sein.
Wenn man in der genetischen Untersuchung nicht speziell darauf prüft, findet man den Gendefekt auch nicht. Normalerweise gibt es einen Katalog mit bekannten Krankheiten, auf die geprüft wird, wie beispielsweise Trisomie 21. Und dort wo wir vorher waren, kannten sie die Krankheit Achromatopsie gar nicht. Deshalb wurde darauf auch nicht getestet. In Gießen hatten wir das Glück, dass es eine Spezialklinik ist, die mit der Krankheit vertraut ist. Es gibt in Tübingen und Gießen Kliniken für diese Krankheit.
Helene: Ich kann Farben sehen, aber ich weiß nicht welche das sind.
Helene: Ich kann Farben sehen, aber ich weiß nicht welche das sind. Ich sehe die Welt farbig, aber ich weiß nicht, welche Farben das sind.
Mama: Ich glaub sie meint damit, dass sie ganz viele verschiedene Grautöne sieht. Und sie kann durch die Grautöne erkennen, was für eine Farbe das ist. Sie hat das gelernt. Manchmal sagt sie auch: „Guck mal Mutti, das ist doch gelb oder orange und das ist grün.“ Und dann fragt man sich: „Woher weiß sie das?“ Aber sie kann das anhand der Grautöne bestimmen. Ich versuche es anderen so zu erklären: „Ihr habt doch früher zu DDR-Zeiten auch schwarz-weiß Fernsehen geguckt und da war auch nicht alles eine Suppe. Ihr habt doch trotzdem die Sonnenstrahlen im Wasser erkannt.“
Wir üben diese Zuordnung der Farben aber nicht explizit. Ich versuche ihr im Hintergrund ein Netz aufzubauen und Strategien zu entwickeln, damit sie im Alltag klarkommt. Wir haben uns mit der Frühförderung ein Farbsystem ausgedacht. Das heißt, wir haben für jede Farbe ein Symbol. Mit diesem System sind beispielsweise alle Stifte von Helene beschriftet. So weiß sie direkt welcher der rote Stift ist.
Es gibt ein offizielles System, das kommt aus Portugal. Aber das war mir zu unlogisch. Mittlerweile ergibt es jetzt Sinn, aber es ist zu kompliziert. Deshalb haben viele Familien ihr eigenes System, so wie wir auch. Durch das System können wir ganz normal mit ihr reden: Also die Sonne ist gelb. Diese Symbole begleiten sie durch das ganze Leben, vor allem auch in der Schule. Der rote Hefter hat dann eben auch ein bestimmtes Symbol. In Kunst kann sie durch die Zuordnung auch ganz normal malen.
In der ersten Klasse war es in Mathe schwierig, weil es solche Ausmalbilder gab. Deshalb habe ich dann Stempel mit den Symbolen anfertigen lassen, um überall wo es um Farben ging, die Symbole drüber zu stempeln. Ich mache quasi immer die erste Schulwoche Urlaub, damit ich alles mit den Symbolen markieren kann. Es ist schon ein Aufwand, aber machbar und es ist eine Erleichterung für Helene.
In der Schule sitzt Helene alleine in der ersten Reihe. Und sie nutzt ein Tafel-Lesegerät. Mit dem Gerät kann sie sich die Tafel vergrößern und auf ihrem Tablet anzeigen lassen. Gleichzeitig hat sie ihren Stick, auf dem alle Bücher gespeichert sind. Sie kann dann alle Bücher auf dem Tablet abrufen. So kann sie sich alles größer ziehen und erkennen. Die klassischen Bücher sind für sie nicht lesbar, weil es zu klein gedruckt ist.
Selbst im Kunstunterricht macht Helene alles mit und malt bunte Bilder.
Sie zählt zu den Klassenbesten, sie kommt also super zurecht. Sie hat auch das Glück eine tolle Lehrerin zu haben, die sie gut integriert. Sie hat einen Inklusionsplatz an der Schule. Die Schule ist eine „normale“ Grundschule, die neu renoviert ist. Es gibt überall digitale Tafeln und die Toiletten sind mit großen Schildern versehen, so dass es Helene um einiges leichter fällt, sie zu erkennen. Das sind Kleinigkeiten, aber die sind wichtig. Die Schule ist also inklusiv und die Lehrerin ist die beste, die man sich wünschen kann. Sie hat es geschafft, Helene innerhalb von einem halben Jahr so zu integrieren, dass sich Helene menschlich total verändert hat, aber zum Positiven. Sie ist offener geworden, hat endlich Freunde gefunden. Sie ist mittendrin und wird nicht als Sonderling behandelt.
Helene: Ich fühle mich in meiner Schule wohl.
Mama: Helene steht prinzipiell mehr Zeit bei Arbeiten zu. Aber noch braucht sie diese nicht, deshalb merkt sie es nicht. In Sport bekommt sie keine Noten und darf nicht alles so mitmachen, wie sie es gern wöllte.
Helene: Das ist blöd.
Mama: Die Lehrerin kopiert die Materialien für Helene immer richtig groß. Während die anderen Kinder ein A4 Blatt bekommen, sind es für Helene drei A3 Blätter (auseinandergeschnitten). Da stecken dann die Inklusionsstunden dahinter, die die Lehrerin hat.
Helene hat einen Behinderungsgrad von 90 und Pflegestufe 2, das haben wir alles schriftlich und die Schule bemüht sich da auch sehr, die Tipps der Seh- und Blindenschule Chemnitz umzusetzen.
Selbst im Kunstunterricht macht Helene alles mit und malt bunte Bilder. Sie hat ein sehr gutes Farbverständnis, auf den Bildern hat alles die richtige Farbe. Deshalb kann die Kunstlehrerin gar nicht richtig glauben, dass Helene keine Farben sieht.
Die Schule macht das alles sehr gut. Sie schaffen ein System im Hintergrund, damit Helene alles mitmachen kann und dieselben Chancen hat. Es wird aber nicht als Problem thematisiert und Helene wird auch nicht als Sonderling behandelt. Helene geht in die Grundschule „Am Markt“ in Laubusch. Das ist eine „ganz normale“ Grundschule.
So wie Helene jetzt sehen kann so bleibt es auch, es wird nicht schlimmer aber auch nicht besser. Es wird daran geforscht, dass man die fehlenden Stäbchen ins Auge einsetzen kann. Aber mit der Forschung wurde erst 2017 begonnen, das ist also noch alles sehr am Anfang. Wir als Familie haben beschlossen, dass wir das nicht wollen. Wenn sie das wirklich will, kann sie das später machen, wenn sie 18 ist. Momentan ist uns das alles zu riskant und wir kommen alle gut klar, so wie es jetzt ist.
Helene benötigt Kantenfilter Brillen. Mit ihren speziellen Sonnenbrillen gehen die Augen auf und das Blaulicht wird gefiltert.
Helene braucht spezielle Brillen-Gläser, die wir in Holland bestellen. Vom Optiker lassen wir die Spezialgläser einsetzen. Sie benötigt Kantenfilter Brillen. Seitdem kommt sie super klar, sie hat einen guten Orientierungssinn. Die Gläser werden von der Krankenkasse bezahlt, die Brillen von uns. Mit ihrer hellen Brille würde sie draußen gar nichts sehen, aber mit ihren speziellen Sonnenbrillen gehen die Augen auf und das Blaulicht wird gefiltert. Dadurch kann sie ein bisschen was sehen. Der Nebel ist dann ein bisschen weiter weg.
Mittlerweile kennen wir ganz viele andere Achromaten. Den Ersten haben wir quasi über unser Dorf kennengelernt. Wir haben damals über unsere sozialen Kanäle darüber informiert, was Helene hat. Daraufhin hat sich bei mir jemand aus unserem Dorf gemeldet, mit der ich vorher gar nicht viel zu tun hatte. Sie meinte, dass sie mit einem Achromaten zusammen studiert hat. Das fanden wir total spannend. Sie hat uns den Kontakt vermittelt. Als wir ihn kennenlernten, hat er uns gleich die Angst genommen, denn er ist ein sehr lebensfroher Mensch. Er meinte, man braucht zwar immer Unterstützung aber es geht schon. Er trägt auch eine rote Sonnenbrille. Das ist schon so das Merkmal der Achromaten, die meisten tragen eine rote Sonnenbrille.
Wir waren bei einen Achromatopsie-Treffen und da haben fast alle eine rote Sonnenbrille getragen, da hat sich Helene total wohl gefühlt. Da war sie nicht der Sonderling. Aber mit der dunkleren Brille sieht sie eigentlich noch mehr, deshalb verstehe ich gar nicht so richtig, warum so viele nur eine rote Brille tragen. Wahrscheinlich, weil es eine Kostenfrage ist. Bis 18 zahlt ja die Krankenkasse und danach nicht mehr.
Über das Internet haben wir den Achromatopsie Selbsthilfeverein e.V. (www.achromatopsie.de) entdeckt. Dort sind wir eingetreten und haben dadurch ein paar Kontakte bekommen. Vor zwei Jahren waren wir dann zum ersten Mal bei einem Achromatopsie-Treffen. Mittlerweile bin im Vereins-Vorstand als Beisitzerin dabei, einfach auch, um die Krankheit in den neuen Bundesländern bekannter zu machen. Die meisten Achromaten sind aus den alten Bundesländern und deshalb sind die Treffen auch irgendwo dort. Und das ist für uns einfach unglaublich weit. Deshalb wollte ich auch mal ein Treffen in unserer Gegend haben. Vor zwei Jahren war es in Magdeburg und dieses Jahr ist es nun in Erfurt. Das ist in der Mitte von Deutschland und da können alle aus allen Richtungen gut hinkommen.
Jeder geht anders mit der Krankheit um. Wir versuchen es positiv zu sehen. Wir versuchen uns auf die Leute zu konzentrieren, von denen wir etwas lernen können. Mit denen ist man dann im Austausch. In Sachsen gibt es ein anderes Mädchen mit Achromatopsie, die beispielsweise super Erfahrungen in der Uniklinik gemacht hat. Das lag daran, dass wir dieselbe Frühförderung hatten und diese die Familie auf unsere Erkenntnisse aufmerksam gemacht hat. Deshalb sind sie dann auch in die Uniklinik gegangen und haben gesagt, überprüft doch mal auf Achromatopsie. So hatte das Mädchen mit noch nicht einmal einem Jahr die richtige Diagnose. Mit der Familie sind wir auch weiterhin im Austausch. Wir sind ihnen quasi etwas voraus und geben unsere Erkenntnisse an sie weiter. Wir treffen uns ca. einmal im Jahr. Dass sie von uns profitieren ist schön, denn so müssen nicht alle wieder von vorne anfangen.
Wir wollen die Krankheit bekannter zu machen.
Helene wollte mal einen Youtube-Kanal machen und erklären, was sie alles kann und was nicht. Da haben wir aber gesagt, das machst du nicht. Dafür ist sie zu jung. Deshalb wollten wir lieber den Weg über das Interview gehen, um die Krankheit bekannter zu machen.
Ich suche den Kontakt zu Menschen, die Achromatopsie haben und mir aus ihrer Sicht erzählen können, wie sie mit Problemen umgehen. Daraus können wir lernen, wie es für Helene weitergehen kann. Zum Beispiel in Richtung Studium. Die meisten, die ich kenne, haben studiert. Eine Achromatin studiert sogar Architektur. Sie sagt, dass es schwer ist, aber machbar. Da sind also keine Grenzen gesetzt, trotz der Behinderung.
Es gibt natürlich immer auch Rückschläge im Alltag, aber das gehört dazu. Helene hatte bisher in ihrem Leben drei- bis viermal einen moralischen Hänger, wo sie mit ihrer Behinderung Probleme hatte. Das war beispielsweise beim Fangen-Spielen, wo sie gestolpert ist und dann die Kinder nicht mehr gesehen hat. Einmal haben irgendwelche Leute mit ihr gestänkert. Aber eigentlich haben wir bisher fast nur positive Erfahrungen mit anderen Menschen gemacht.
Helene: Beispielsweise hat mich mal einer gefragt, warum ich die Sonnenbrille trage, die Sonne scheint doch gar nicht. Da habe ich nur gesagt, dass ich farbenblind bin.
Mama: Ja, solche Sachen haben wir schon häufiger. Wir vereinfachen das dann immer und sagen, dass Helene farbenblind oder lichtempfindlich ist. Wenn wir das sagen, sind die Leute immer gleich so geschockt und sagen „Ach sooo“.
Wir gehen auch cool mit der Sache um. Ich habe Helene eine Lederjacke gekauft, um ein bissl auf cool zu machen. Wir erzählen auch nicht jedem, was Helene hat. Jeder, der einen dummen Kommentar macht, bekommt einen dummen Kommentar zurück. Und wer ordentlich fragt, bekommt eine ordentliche Antwort.
Wir waren mal im Urlaub - es war regnerisches Wetter, wir waren im Fahrstuhl und Helene hatte ihre Brille auf. Eine andere Frau war mit uns im Fahrstuhl. Sie hat Helene gefragt, warum sie eine Sonnenbrille aufhat, ging dann auf Helene zu und nahm ihr die Sonnenbrille ab. Die Frau hat einfach Helene angefasst. Das war total übergriffig. Wir haben dann gesagt: „Entschuldigen sie bitte, aber das Kind braucht die Brille.“ Und dann haben wir es ihr erklärt. Aber die Art ging einfach gar nicht und wir waren echt geschockt.
Die meisten entschuldigen sich für ihren Kommentar und sagen: „Das wusste ich nicht.“ Na klar wissen es die Leute nicht, aber man muss ja nicht so blöde Kommentare sagen. Es hat eben einen Grund, warum Helene die Brille trägt.
Helene: Ich kann dann aber auch gleich sagen, dass ich Achromatopsie habe.
Mama: Aber das verstehen die Leute erst recht nicht.
Inklusion funktioniert für uns mittlerweile richtig gut.
Inklusion funktioniert für uns mittlerweile richtig gut. Wenn Helene nicht in ihrer jetzigen Schule gelandet wäre, hätten wir sie theoretisch auch auf eine Schule ohne Inklusionsplatz schicken können. Aber das wäre dann sehr viel mehr Arbeit gewesen. Sie hätte auch nach Chemnitz auf die Blinden- und Sehbehindertenschule gehen können. Dort sind wir auch in Betreuung, aber ich habe gesagt, ins Internat möchte ich Helene nicht geben. Dann haben wir hier in Hoyerswerda noch die Friedrich-Wolf-Schule. Das ist eine Behindertenschule für Kinder mit körperlicher oder geistiger Behinderung. Das haben wir uns auch angeschaut. Aber Helene ist nicht nur Achromatin sondern auch sehr schlau. Deshalb hat das für uns nicht so richtig gepasst. Wir wollten sie nicht ausbremsen.
Wir haben uns dann für die Schule in Laubusch entschieden, obwohl wir im Kindergarten schlechte Erfahrungen mit Inklusion gemacht haben. Dort wurde das Prinzip von Inklusion nicht verstanden.
Im Kindergarten wurde sie nicht wirklich integriert, eher isoliert. Von den Kindern her gab es gar keine Probleme, die waren alle total lieb und haben Helene normal aufgenommen. Wir haben versucht, Gespräche mit der Erzieherin zu führen. Da gab es einige Punkte, die nicht funktioniert haben.
Die jetzige Schule ist das ganze Gegenteil. Ihre Lehrerin hat wirklich verstanden, was Inklusion bedeutet. Inklusion bedeutet nicht die Kinder zu bemitleiden oder auszugrenzen, sondern dass Helene genau das gleiche macht wie alle anderen, nur auf ihrer Basis, also mit ein paar Hilfsmitteln oder mehr Zeit. Inklusion ist immer abhängig von Personen, das haben wir gelernt. Helenes Lehrerin ist so interessiert und engagiert, das ist echt toll. Helene ist so selbständig geworden, das klappt wirklich sehr gut.
Wie es nach der Grundschule weiter geht, werden wir sehen. Aber Helene möchte gern aufs Léon-Foucault-Gymnasium, weil dort der Schwerpunkt auf Mathematik, Naturwissenschaften und Sport liegt. Das Gymnasium ist auch technisch super ausgestattet, was Helene zu Gute kommt. Die Digitalisierung hilft Helene sehr und sie fällt so auch nicht weiter auf.
Inklusion bedeutet für uns, dass im Hintergrund immer jemand für Helene da ist, der sie auffängt und ihr Hilfestellungen gibt, aber sie trotzdem normal sein lässt.
Für uns war vor allem der Weg zur Diagnose sehr lang und schwer. Das müsste man einfach verbessern und da hilft nur Aufklärung. Es muss bekannter werden, dass es Achromatopsie gibt, so dass Eltern die Ärzte auf diese Möglichkeit hinweisen können. Nicht jeder Arzt kann alle Krankheiten kennen. Aber wenn mehr Menschen von Achromatopsie und den Symptomen wissen würden, würde das sicher helfen, die Krankheit schneller zu diagnostizieren.
Denn das sagen alle Achromaten, dass der Weg zur Diagnose sehr schwer war. Bevor man weiß, dass es Achromatopsie ist, muss man diese ganzen Ängste ertragen. Was könnte es sein? Vom Gehirntumor bis hin Blindheit ist da alles dabei.
Inklusion bedeutet für uns, dass im Hintergrund immer jemand für Helene da ist, der sie auffängt und ihr Hilfestellungen gibt, aber sie trotzdem normal sein lässt. Das ist für uns das Wichtigste, damit sie sich entwickeln kann. Das hat uns auch der Wechsel zwischen Kindergarten und Schule gezeigt, da hat Helene eine unheimlich große Entwicklung zum Positiven mitgemacht. Und das ist zu großen Teilen dem Inklusionsdenken in der Schule zu verdanken.
Mehr Informationen zu Achromatopsie finden Sie hier: Achromatopsie Selbsthilfe e.V.
Interview geführt am: 30.01.2024
Interview veröffentlicht am: 29.02.2024