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Julien, Auerbach

Julien: Ich habe eine Tetra-Spastik. Das bedeutet, dass bei mir alle vier Gliedmaßen durch Spannungen betroffen sind - und das jeden Tag. Ich stehe im Prinzip den ganzen Tag unter Strom.

Gesichter der Inklusion

Ich bin Julien, 17 Jahre alt und gehe zurzeit in die Oberschule in Schöneck. Wie bei anderen Jugendlichen auch sind meine Hobbys zocken (Computerspiele), Musik hören, schwimmen und generell Training. Ich bin in der 8. Klasse.

Lydia: Ich bin Lydia, ausgebildete Krankenpflegerin und seit 2022 die Schulbegleitung von Julien. Wir sind ein gut eingespieltes Team.

Ich muss sagen, dass mir vieles am Anfang nicht so leichtgefallen ist, aber Juliens Pflegemutti Mandy hat mir wirklich sehr geholfen zu verstehen, welche Einschränkungen Julien mit seiner Spastik hat und wie er seinen Alltag und die Schule meistert.

Julien: Ich habe eine Tetra-Spastik. Das bedeutet, dass bei mir alle vier Gliedmaßen durch Spannungen betroffen sind - und das jeden Tag von früh morgens, wenn ich aufstehe, bis abends, wenn ich ins Bett gehe. Selbst im Schlaf habe ich sehr viele Spannungen. Ich stehe im Prinzip den ganzen Tag unter Strom. Ich bin zu zeitig auf die Welt gekommen. Ich wurde in der 23. Schwangerschaftswoche geboren. Ich war 30 cm groß und zwei Stück Butter schwer.

Pflegemutter: Julien wog 530 g. Er hatte dann kurz nach der Geburt eine Hirnblutung. Das kommt bei sehr vielen Frühchen vor. Und die Hirnblutung hat im Gehirn Areale kaputtgemacht.

Julien: Das logische Denken und das Sehen.

Pflegemutter: Julien hat eine Sehbehinderung, die Netzhaut hat sich abgelöst. Was auch eine typische Komplikation bei Frühchen ist. Er hatte aber Glück, dass ihm ein Oberarzt die Augen gelasert hat, dadurch kann er etwas sehen.

Julien: Ich sehe jetzt 30 Prozent mit Brille.

Pflegemutter: Die Grunderkrankung ist die Zerebralparese - frühkindlicher Hirnschaden.

Pflegemutter: Die Grunderkrankung ist die Zerebralparese - frühkindlicher Hirnschaden. Julien musste schon von Geburt an kämpfen.

Julien: Ich hatte schon viele Operationen. Direkt nach der Geburt hatte ich eine Herz-Operation, da mein Herz ein Loch hatte, das sich nach der Geburt nicht geschlossen. Ich nehme ein Medikament, das die Spastik eigentlich für ein paar Stunden mindern soll. Das Medikament hilft, aber ein großer Nachteil ist, dass ich sehr schnell müde werde, weil es auf Cannabis basiert. Es ist ein Beruhigungsmittel.

Pflegemutter: Das Dronabinol ist ein Betäubungsmittel. Er hatte davor Medikamente zur Lösung der Spastiken, die haben bei ihm überhaupt nicht angeschlagen. Eine Zeitlang hat er Botox-Injektionen bekommen, die haben anfangs ganz gut gewirkt. Aber nach drei, vier Jahren hatte der Körper sich wahrscheinlich daran gewöhnt, und die Wirkung war weg. Botolinumtoxin, bekannt unter Botox ist ein Nervengift, das gespritzt wird. Aber das macht kein normaler Arzt. Wir sind dafür nach Jena in die Uni-Klinik gefahren. Dort wurde es Julien in die Muskelgruppen injiziert, die so extrem spastisch sind. Das führt zu einer Verringerung oder Lähmung der Muskeltätigkeit und dadurch zu einer Lockerung der Muskeln. Allerdings werden die Muskeln teilweise ausgeschaltet und er kann sie dann auch nicht richtig nutzen.

Julien: Und es wirkt auch muskelabbauend.

Pflegemutter: Es ist umstritten, was das Medikament gerade mit Kindern macht. Es heißt, das Nervengift macht auch Muskelzellen kaputt, die dann nicht mehr aufgebaut werden können. Auf jeden Fall haben wir das dann gelassen.

Julien: Ein Freund aus der Reha hatte eine Operation, die nennt sich Myofasziotomie. Da werden die einzelnen Muskelfasern angeritzt, so dass die Muskeln die Möglichkeit haben zu wachsen.

Pflegemutter: Bei Menschen mit einer Spastik verhärten die Faszien, und dann können die Muskeln darunter nicht mehr wachsen. Julien: Ich habe diese Operation auch machen lassen.

Pflegemutter: Die Operation war für Julien sehr schmerzhaft. Aber dadurch konnte Julien dann bestimmte Bewegungen wieder machen.

Julien: Die linke Hand ging besser auf. Es hat wirklich geholfen, und ich habe in den letzten Jahren viel Muskelkraft aufgebaut, was sonst nicht möglich gewesen wäre.

Pflegemutter: Nach der Operation musste Julien sehr viel gedehnt werden, damit die Muskeln nicht wieder verkürzen. Je öfter und besser man das macht, umso länger kann man eine erneute Operation hinauszögern. Bis jetzt haben wir es so gut hinbekommen, dass es nicht wieder gemacht werden musste. Das Dehnen macht hauptsächlich die Physiotherapeutin zweimal in der Woche.

Julien: Sie kommt immer mittwochs und freitags zu mir nach Hause, und dann dehnt sie mich durch. Ich merke es vor allem in der Bewegung. Ich habe ja auch viele Nackenschmerzen. Heute habe ich zum Beispiel wieder Kopfschmerzen. Das kommt davon, weil ja alles steif ist. Laufen im Rollator geht mit Hilfe, aber wirklich nur kurze Strecken. Wir wollen jetzt eher darauf hintrainieren, dass ich selbständiger werde, also vom Rolli auf die Toilette komme und wieder zurück, oder vom Rolli aufs Sofa und wieder zurück, oder mich selbst anziehe.

Pflegemutter: Ein freies Laufen wird für Julien nicht möglich sein. Wir hatten immer die Hoffnung, dass er ein bisschen auf Vier-Punkt-Stützen laufen kann, aber das schafft er mit der Hüfte nicht. Bei einer Zerebralparese ist es so, dass die Arme und Beine von der Spastik extrem betroffen sind. Die sind sehr steif, und die Spannung von den Muskeln ist sehr hoch, aber der Oberkörper hat – genau umgekehrt - eine ganz geringe Muskelspannung. Julien knickt dann immer weg. Im Körper selbst ist gar nicht so viel Spannung, es sind nur die Beine und die Arme. Die Spannungen sind aber auch schmerzhaft.

Julien: Es gibt einen Anzug, der nennt sich Mollii-Suit.

Julien: Es gibt einen Anzug, der nennt sich Mollii-Suit. Das ist wie ein Korsett aus Gummi oder eher wie ein Renn-Anzug. Der Anzug hat viele Elektroden, und er lindert wirklich für 24 Stunden die Spastik.

Pflegemutter: Das zahlt aber die Krankenkasse nicht. Wir haben ihn zweimal ausprobiert und Julien war total glücklich damit.

Julien: Der Anzug hat mich so gelockert, dass ich im Stuhl eingeschlafen bin. Woher der Anzug kommt, weiß ich nicht ganz genau. Gesehen habe ich ihn auf der Messe in Düsseldorf. Eine Frau hatte ihn an und erzählte von ihren Erfahrungen: „Ich kann mein Bein wieder strecken. Und ich habe auch dadurch mit den ganzen Medikamenten aufgehört.“

Pflegemutter: Man trägt den Anzug eine Stunde am Tag. Er gibt Impulse ab. Es wird von den Physiotherapeuten genau eingestellt, welche Muskelgruppen entspannt werden sollen. Wenn die spastischen Muskeln entspannt werden, können die anderen natürlich arbeiten. Jeder Muskel hat einen Gegenspieler. Bizeps und Trizeps, wenn der eine anspannt, ist der andere locker. Bei Julien ist es aber so, dass wenn der eine Muskel anspannt, spannt auch der andere an – und das ist das Schmerzhafte. Und dadurch sind bestimmte Bewegungen nicht möglich. Julien konnte den Anzug ausprobieren und war dadurch entspannt. Das Laufen ging zum Beispiel viel einfacher.

Julien: Ich habe meine Beine gespürt und konnte sie besser hochbekommen. Man muss sich das so vorstellen: Wenn man ein Gummiband dehnt und dann loslässt, dann schnappt es doch so – und so ist es bei der Spastik.

Pflegemutter: Julien will den Arm ausstrecken, aber die Spastik ist wie ein Gummiband und zieht es wieder zurück. Und das wird mit dem Anzug ausgeschaltet.

Julien: Der Anzug kostet leider sehr viel Geld.

Pflegemutter: 9.000 Euro kostet der Anzug und die Krankenkassen zahlen es nicht.

Lydia: Mit dem Anzug könnte Julien auf sein Medikament verzichten.

Pflegemutter: Man müsste im Prinzip nur den Anzug kaufen. Julien ist mit 17 Jahren fast ausgewachsen, er hätte den Anzug nicht nur ein Jahr. Die Reha-Technik würde die ganzen Einstellungen übernehmen, und dann könnte Julien den Anzug zu Hause nutzen. Dann müsste die Reha-Technik im Prinzip auch nichts mehr machen. Die Krankenkassen sagen, die Wirkung ist noch nicht wissenschaftlich erwiesen, und der Anzug hat noch keine Hilfsmittel-Nummer. Es gab zu der Anzugtechnik einen großen Beitrag beim MDR. Leider wurden dort „nur“ Erwachsene mit Multiple Sklerose gezeigt. Für eine Frau hat der MDR dann auch den Anzug bezahlt.

Julien: Darüber habe ich mich aufgeregt.

Pflegemutter: Wir sind bei der Krankenkasse in Widerspruch gegangen, wir sind in den zweiten Widerspruch gegangen, jetzt sind wir damit vor dem Sozialgericht.

Pflegemutter: Anders als der Anzug ist das Dronabinol ein Betäubungsmittel, was schon bewusstseinseinschränkend ist. Es ist eine Gradwanderung: Er liegt unter der Dosis, die er kriegen dürfte, aber nur deswegen, weil er sonst in der Schule einschlafen würde. Am Anfang musste man ja das Medikament einschleichen, und da war das schon so, dass Lydia sagte, ihm zieht es die Augen zu. Da habe ich immer gesagt: „Da musst du eher ins Bett.“ Dann waren wir eine Woche in der Klinik. Da war ich selbst mit und wusste, wann er schläft. Er hat das Medikament bekommen, und in der Therapie zog es ihm die Augen zu.

Julien: Mir ist da nur schwindlig geworden. Mir war kotzübel.

Pflegemutter: Es beeinträchtigt ihn in der Schule. Schöner wäre es, wenn er es nicht bräuchte.

Julien: Da würde ich mir wirklich einen Anzug wünschen.

Pflegemutter: Wir hoffen, dass die Entwicklung weitergeht. Dass die Krankenkassen vielleicht doch auch sehen, was der Anzug bewirken kann. Das gleiche Problem hatten wir mit dem Lauf-Trainer, da waren wir beim Sozial-Gericht. Wir haben zweieinhalb Jahre dafür gekämpft. Ich denke, wir haben es nur genehmigt bekommen, weil Julien vor Gericht selbst gesprochen hat. Ich fand das damals so toll, dass Julien sich gemeldet hat: „Herr Richter, ich muss jetzt dazu was sagen.“ Er ist vor Spastik bald aus dem Rollstuhl rausgefallen. Er stand fast vor Aufregung. Und er hat daraufhin den Lauftrainer zugesprochen bekommen.

Die Krankenkasse hat Widerspruch eingelegt. Als wir dann auch die Revision durchbekommen haben und den Innowalk erhalten haben, haben einige Familien davon profitiert, die das ohne Gericht und deutlich schneller als wir erhalten haben. Julien hat eigentlich dafür die Vorarbeit geleistet. Die Krankenkasse war ein paar Mal hier und hat mit Julien gesprochen. Und dann kam auch die Einsicht, dass das Gerät etwas bewirkt. Und jetzt hoffen wir, dass vielleicht eine andere Familie bezüglich des Anzugs die Vorarbeit leistet. Wir sind aber wieder vor dem Sozialgericht.

Es ist wahnsinnig anstrengend, so ein Verfahren durchzustehen. Ich habe eigentlich nach dem Innowalk gesagt: „Wenn es nicht extrem wichtig für Julien ist, mache ich das nicht mehr.“ Damals war es nervenaufreibend, die Krankenkassen haben jeden Arzt-Brief auseinandergepflückt und zu ihren Gunsten genutzt. Und wir mussten immer widerlegen, dass sie das falsch interpretieren. Das war so anstrengend auch für uns als Familie und so zeitintensiv, die Zeit könnten wir mit Julien ganz anders nutzen.

Julien: Ich musste alle Hilfsmittel mitbringen und die alle vorführen. Das Fahrrad, Rollator, Rollstuhl, Stehständer. Alles.

Pflegemutter: Es war ein Vorführen. Als die Krankenkasse in Revision gegangen ist, hat Julien ein dreiviertel Jahr keinerlei Hilfsmittel mehr bekommen. Nur die, die wir hatten. In der Zeit ist er aber sehr gewachsen. Er ist aus den Hilfsmitteln rausgewachsen. Weil aber das schwebende Verfahren noch war, hat die Krankenkasse uns nichts anderes bezahlt, bis die Klinik in München dann intensiv Briefe geschrieben hat: „Das geht nicht, da sind die nächsten Operationen vorprogrammiert.“

Er hatte dann ein halbes Jahr kein Gerät, wo man ihn hinstellen konnte. Er musste permanent im Rollstuhl bleiben. Julien: Zwischendurch ist der eine Rollstuhl so klein geworden, dass ich gesagt habe: „Mama, nimm mich bitte aus dem Rolli raus. Mir tut der Popo weh.“

Lydia: Hut ab, wenn man da so ein Durchhaltevermögen hat und trotzdem weitermacht.

Pflegemutter: Durch meinen beruflichen Werdegang weiß ich schon vieles, und es fällt mir nicht so schwer. Wenn man da andere Eltern hat, die damit gar nichts zu tun haben, sind die natürlich überfordert. Und damit rechnen die Krankenkassen.

Neben diesen Problemen, beschäftigen uns natürlich noch andere Dinge. Schwierig ist vor allem, dass sich Julien im Alltag erklären muss.

Julien: Ich verstehe das, wenn kleine Kinder fragen: „Was hat der?“ Dann gehe ich hin und versuche ihnen das so spielerisch wie möglich zu erklären. Wenn das aber Eltern machen, dann frage ich mich schon, wozu eigentlich.

Pflegemutter: Vor allem wenn Erwachsene ihn so lange anstarren. Ich sage dann: „Geh du doch auf die Leute zu und frage, ob sie etwas wissen wollen.“ Aber das traut er sich noch nicht.

Lydia: Das ist an der Schule wieder überhaupt nicht. Da sind natürlich auch die Lehrer mitverantwortlich. Die haben ein super Inklusions-Team dort. Die sind wirklich hilfsbereit.

Julien: Ich habe so eine gute Klasse.

Lydia: Wir machen ganz normal den Unterricht mit und ich schreibe für ihn die Sachen auf.

Lydia: Ich bin von der Diakonie als Schulbegleiterin für ihn dort. Aber sie haben dort selbst noch Schulbegleiter.

Pflegemutter: Die Schule ist eine Freie Evangelische Schule. Träger ist der Obervogtländische Verein für Innere Mission Marienstift, und die haben in der Schule ein fest angestelltes Inklusions-Team. Das hat man an staatlichen Schulen nicht. Gerade für Kinder wie Julien ist das genial, weil er in der Schule noch einmal separat einen Inklusions-Betreuer hat, der viele Sachen bei den Lehrern anspricht. Als Julien zum Beispiel den E-Rollstuhl bekommen hat, passte er nicht mehr an einen normalen Tisch. Der Betreuer hat sich darum gekümmert, dass in allen Zimmern, selbst in den Fach-Kabinetten, in denen Julien ist, höhere Tische sind. Julien oder auch Lydia können sich an ihn wenden, wenn es Schwierigkeiten gibt. Und er kümmert sich dann darum. Neben Julien gibt es dort auch andere Inklusions-Schüler, zum Beispiel mit Autismus, sozial-emotionale Schwierigkeiten, einen anderen Rollstuhlfahrer und jemanden mit Muskeldystrophie.

Lydia: In der Schule sitzen wir ziemlich weit hinten, weil wir eine Kamera haben. Wir können heranzoomen, wie wir wollen. Und wir haben auch viel Platz. Es sind drei Tische zusammengestellt. Er hat einen Extra-Tisch für seinen Rolli. Wir machen ganz normal den Unterricht mit und ich schreibe für ihn die Sachen auf. Manche Sachen schreibt er auch selbst, aber er braucht dann mehr Zeit.

Julien: Ich bin einfach zu langsam. Das ist ein großer Nachteil. Bei Arbeiten, besonders in Mathe, wenn ich die Aufgaben sehe, falle ich in ein schwarzes Loch und habe einen Blackout. Und dann fange ich an zu lachen, aber das ist kein normales Lachen, sondern ein Lachen, das eigentlich zeigt: Es geht mir nicht gut. Eigentlich wollte ich die Hauptschule abschließen, aber der Unterrichtsstoff ist für mich zu schnell geworden, so dass ich nicht mehr hinterherkam und mich ständig verrückt gemacht habe, dass ich es nicht schaffe.

Pflegemutter: Julien macht jetzt die 9. Klasse ganz normal mit, geht aber dann nicht in die Prüfungen. Man muss sagen, in Mathe hat er einen anderen Lehrplan als die anderen Schüler, das ist aber das einzige Fach.

Julien: In Mathe werde ich jetzt wieder nach einem Förder-Lehrplan unterrichtet, wie in einer Lern-Förderschule.

Pflegemutter: In den anderen Fächern macht Julien den normalen Lehrplan mit.

Lydia: Er ist sehr zielstrebig, er will die Aufgabe schaffen, aber kommt vielleicht einfach nicht weiter. Das geht ja auch vielen anderen Schülern so. Auch das Sehen schränkt ihn sehr ein. In Geometrie ist die räumliche Vorstellung ganz schwierig.

Pflegemutter: Julien hat durch seine Sehbehinderung kein räumliches Sehen.

Julien: Wenn ich in einem Raum bin, dann ja. Aber von einer Zeichnung?

Lydia: Aber dafür, dass er das räumliche Sehen nicht hat, staunen alle, wie er mit seinem E-Rolli Kurven und rückwärtsfährt.

Pflegemutter: Im Alltag fällt die Sehbehinderung nicht auf. Wir merken, wenn es dunkel wird, erkennt er keine Konturen, wo zum Beispiel abgesenkte Bordsteine sind. Ansonsten kann er sich trotzdem echt gut bewegen. Er kennt es auch nicht anders.

Im Kindergarten war der Nystagmus (Augenzittern) bei Julien noch schlimm. Ich hätte nie gedacht, dass er überhaupt einmal etwas lesen kann, weil das Fixieren so schwierig war. Aber er hatte ja bis zur Einschulung die Sehfrüh-Förderung vom Blinden- und Sehbehindertenverband Chemnitz und das hat geholfen. Wenn er müde ist oder die Brille abnimmt, dann sieht man es leicht, aber nicht mehr so, wie es einmal war. Zudem sieht Julien den schärfsten Punkt nicht in der Mitte seines Auges. Das ist wahrscheinlich durch das Lasern passiert.

Julien: Lydia sitzt jetzt neben mir, und ich sehe für mich gerade. Als ich klein war, konnte ich genau sagen, Lydia isst ein Stück Kuchen, obwohl ich geradeausgesehen habe. Oder Bilder: Man hat mir immer Bilder an die Seite gehalten, und ich konnte genau sagen, was es ist. Ich kann also um die Ecke gucken.

Lydia: Es ist toll, wie weit Julien gekommen ist. Mandy und Julien haben sich im Kindergarten kennengelernt.

Julien: Ich bin ein Pflegekind.

Julien: Ich bin ein Pflegekind. Man muss sagen, ich hatte bei meiner Mutti keine ganz einfache Kindheit, es war schon schwer.

Pflegemutter: Julien war fast drei Jahre alt, als er zu uns in den Kindergarten kam. Wir haben dort eine heilpädagogische Gruppe.

Julien: Meine Mama war überfordert mit meiner Krankheit, oder sie wusste nicht einmal, was das für eine Krankheit ist.

Pflegemutter: Du kannst schon sagen: Sie war einfach überfordert, und dadurch hat Julien in den ersten drei Jahren eigentlich keinerlei Förderung erhalten, weder Physiotherapie noch Ergotherapie noch irgendwas. Julien war bei uns im Kindergarten, doch dann wollte das Jugendamt ihn holen, weil die Mutti ihn eigentlich in ein Heim geben wollte. Mir tat das so leid, und ich konnte ein paar Nächte nicht mehr schlafen und habe dann mit meiner Familie gesprochen. Wir wollten ihn nicht ganz zu uns nehmen, sondern seine Mutti entlasten.

Julien sollte schon bei seiner Mutti bleiben, aber wir konnten uns vorstellen, ihn aller zwei oder drei Wochen am Wochenende zu nehmen, so dass die Mutti mal durchatmen konnte. Oder wenn sie krank war, haben wir ihn genommen. Dann hat die Mutti aber immer mehr Auszeiten gebraucht. Sie wollte aber schon, dass Julien immer wieder zurückkommt. Das ging viele Jahre hin und her. Schon im Kindergarten sagte Julien: „Ich will eigentlich bei Euch bleiben, und die Mama könnte ja meine Urlaubs-Mama sein.“ Denn wir hatten ihm immer erklärt, wir sind die Urlaubs-Mama und der Urlaubs-Papa, und wir haben ihn immer mit in den Urlaub genommen.

Julien: Ich habe Terror in der Schule gemacht: „Ich will nicht mehr nach Hause, ich will nicht mehr nach Hause“.

Pflegemutter: Seine ehemalige Schulbegleiterin hatte dann einen Bericht geschrieben und an das Jugendamt weitergegeben.

Lydia: Diese Hintergründe sind wichtig, sonst wäre Julien nicht, wie er jetzt ist.

Pflegemutter: Das Sozialamt hatte schon ein paar Mal gesagt, dass es grenzwertig für Julien zu Hause ist. Und es stand immer im Raum: „Was ist, wenn Julien einmal aus der Familie herausmuss?“ Das Sozialamt fragte bei uns an, ob wir uns vorstellen könnten, die Pflegeeltern zu sein. Wir hatten das dann alles schon durchlaufen, ohne dass wir wussten, ob Julien wirklich einmal zu uns kommt. Dann hatten wir viele Anfragen für Pflegekinder. Mir hat das immer leidgetan, doch mein Mann sagte: „Wenn wir ein anderes Pflegekind nehmen und mit Julien ist irgendetwas – das geht nicht.“

Durch den Brief von der ehemaligen Schulbegleiterin musste das Jugendamt reagieren und fragte uns vorab: „Es gibt einen Hausbesuch. Bleibt es dabei, dass wir Ihnen Julien bringen können?“ Der Hausbesuch eskalierte, und sie haben Julien sofort mitgenommen. Und seitdem ist er da, seit 2017. Wir haben versucht, dass Julien die Mutti trotzdem noch besucht, das hat aber nicht funktioniert. Auf Wunsch von Julien haben wir den Kontakt abgebrochen. Erst seit einem halben Jahr hat er wieder über WhatsApp Kontakt und ab und zu auch über das Telefon.

Julien: Jetzt haben wir wieder einen Termin ausgemacht. In der dritten Ferienwoche wollen wir uns vielleicht einmal treffen.

Pflegemutter: Bis jetzt hat er es fünf Jahre lang abgelehnt, die Mutti zu sehen.

Julien: Wen ich wirklich vermisse, das ist meine Schwester.

Pflegemutter: Die Schwester war sein Mama-Ersatz. Sie hat einiges im Alltag abgefangen.

Julien: In der ersten Klasse hat sie sich mit mir hingesetzt und Hausaufgaben gemacht. Sie hat mit mir Lesen geübt.

Pflegemutter: Als er kleiner war, hat sie ihm das Essen gegeben. Sie war selber noch ein Kind. Julien hat seiner Schwester sehr viel zu verdanken. Julien hat sie auch lange nicht gesehen, aber ihr geschrieben. Seine Schwester war im Zwiespalt, sie wollte der Mutti nicht wehtun.

Als Julien zu uns kam haben wir mit Rehas und Therapien angefangen und er hat motorisch unheimlich aufgeholt. Er ist sehr ehrgeizig und möchte auf seinen Trainingsgeräten trainieren. Wir haben einen Innowalk, da können wir Julien hineinstellen. Mit dem Gerät werden die Beine bewegt, als ob er läuft, aber es macht ein Motor. Das ist gut für die Kräftigung der Muskulatur, und er muss selbst den Oberkörper ausbalancieren. Den Innowalk liebt er. Da hat er immer Musik und Kopfhörer und stellt sich immer vor, dass er allein läuft. Wir hätten nie gedacht, dass er es schafft, an einer Regel-Schule so mitzukommen, wie er das jetzt macht. Das ist super. Mit viel Training hat Julien auch motorisch viel aufgeholt. Aber Training und Schule ist eigentlich zu viel, das schafft er nicht.

Julien: Wenn andere sagen, ich habe frei, dann habe ich meistens noch Physiotherapie oder Ergotherapie.

Pflegemutter: Julien hat so ein volles Programm mit Physiotherapie und Ergotherapie. Das Wochenende ausgenommen, hat er nur am Donnerstag wenige Stunden frei. Ansonsten ist er mit Schule und Therapien voll ausgelastet und zwischendurch lernt er und macht Hausaufgaben.

Es ist auch schwierig, für die Schule zu lernen und Hausaufgaben zu machen. Er braucht viel länger, wenn er es selbst macht, aber die Zeit ist eigentlich gar nicht da. Irgendwann braucht er zwischendurch auch mal Zeit, in der er nichts macht. Freitags nach der Physiotherapie, da sage ich nichts, da hängt er dann am Fernseher und am Computer.

Julien: Es gibt manchmal Tage, an denen ich weine und frage: "Wozu das alles?"

Julien: Es gibt manchmal Tage, an denen ich weine und frage: "Wozu das alles?"

Pflegemutter: Anstrengend ist eigentlich schon das Aufstehen. Julien steht um sechs auf, und dann sind die ganzen Gelenke steif. Er liegt im Bett, dann sind die Beine über Kreuz, und ich muss die wirklich erst einmal auseinanderdrücken, weil ich ihn sonst gar nicht rauskriegen würde. Und das Anziehen früh ist eine Tortur.

Julien: Wie lange brauchen wir? Die Kleidung, dann noch meine Orthesen, dann die Schuhe, dann frühstücken, Zähne putzen, raus, in den E-Rolli setzen, alles einstellen, damit es ordentlich sitzt, und dann geht es los.

Pflegemutter: 50 Minuten, und da ist jede Minute getaktet. Ich hole ihn um sechs aus dem Bett und dann kucke ich schon, wie lange ich brauche mit dem Anziehen. Und wenn wir ein bisschen länger brauchen, weil er gar so steif ist, dann muss er ein bisschen schneller essen. Ich sage immer: „Halb sieben musst du mit dem Frühstück fertig sein, dass er noch Zähne putzen kann und sich waschen und dass ich ihn dann anziehen kann.“

Julien: Früh fühle ich mich total fit, und dann in der Schule …

Pflegemutter: Eigentlich ist das schon Schwerstarbeit, bis er im E-Rolli sitzt. Das sieht ein Außenstehender nicht, was da schon zu Hause alles dranhängt. Das ist nicht so einfach.

Lydia: Die Lehrer haben den Mitschülern von Julien gut erklärt, wie das ist. Sie haben gesagt: „Wenn Julien aufsteht, könnt Ihr Euch noch einmal im Bett umdrehen.“ Sie können es ja auch nicht verstehen, wenn sie damit keine Berührung haben.

Julien: Wir haben vor einer Weile eine Klassen-Exkursion in Geografie gemacht. Da sind wir mit dem Bus nach Windischeschenbach gefahren. Und ich sehe den Bus, wie der da anrollt. Der Busfahrer kommt raus und sagt: „Mein Guter, dein Gefährt kriegen wir nicht mit rein.“ Da macht er so einen Gepäckraum auf, wo man die Koffer hinlegen kann, und sagt: „Den kriegen wir nicht hinein. Kannst du laufen?“ Ich sage: „Nee, ich muss den E-Rolli mitnehmen, ansonsten kann ich nicht mitfahren.“

Lydia: Das Ding war ja, dass die Klassenlehrerin alles ausgemacht hatte und zu uns gesagt hat, dass ein extragroßer Bus kommt mit dem Julien mit seinem E-Rolli mitfahren kann.

Julien: Vier meiner Klassenkameraden haben dann den 180 Kilo schweren E-Rolli in den Gepäckraum gehoben – zu viert.

Pflegemutter: Und ein Schulkamerad hat Julien Huckepack genommen und in den Bus getragen.

Julien: Hoch und runter. Hin und zurück.

Pflegemutter: Deine Klassenkameraden und deine Lehrerin haben dich nicht hängenlassen.

Julien: Den vier Jungs habe ich dann Schokoladentafeln mitgebracht.

Pflegemutter: Unser Plan war eigentlich, dass Julien in die Seminar-Schule geht, die hier gleich um die Ecke ist. Aber die Schule hat sich so schwergetan. Ich will nicht einmal sagen, dass sie das nicht wollten. Aber sie hatten so viele Argumente dagegen, dass das auch nie etwas geworden wäre. Juliens Schule ist 25 Minuten weit weg. Für Julien ist das nicht so schlimm, weil er gerne Auto fährt.

Julien: Wenn wir nach Italien fahren, genieße ich es, die Nacht durchzufahren.

Lydia: Als wir uns kennenlernten, fand ich Julien schon sehr sympathisch. Am Anfang, als alles neu für mich war, war es für mich schon sehr viel. Mandy hat mir auch sehr viel erklärt, und natürlich ist man auch einmal aneinandergeraten. Aber wir sind ein gutes Team. Man ist ja nicht immer nur ernst in der Schule, man lacht ja auch mal zwischendurch. Er wird morgens vom Fahrdienst in die Schule gebracht. Ich hole ihn unten am Eingang ab.

Die Eingangstür der Schule ist eine schwere Feuerschutz-Tür, da könnte er mit seinem e-Rolli nicht selbständig rein. Dann fahren wir mit dem Fahrstuhl hoch und bereiten alles vor. Wenn Julien Frühstückspause hat, dann gehe ich schon mal woandershin, dass er auch mal alleine mit seinen Mitschülern sein kann. Aber ansonsten muss ich schon das Essen schneiden, weil er das nicht alles machen kann. Seine Mitschüler sind aber auch immer da, und die würden ihm auch immer wieder helfen.

Julien: Ich traue mich nur nicht zu fragen. Das ist mir unangenehm. Ich bin eher der ganz Ruhige in der Klasse.

Pflegemutter: Julien braucht vor allem für die Toilette Unterstützung, das schafft er nicht allein.

Lydia: Es sind manchmal ein bisschen blöde Gegebenheiten. Er ist mit seinem E-Rolli so selbständig und kann herumfahren, aber beispielsweise beim Fahrstuhl ist das Zeitfenster zu kurz. Er hat einen Schlüssel zum Aufmachen. Er hat ja schon mit der Feinmotorik zu tun, den Schlüssel hineinzustecken. Dann geht der Fahrstuhl auf, er zieht er den Schlüssel wieder heraus – und zack, ist der Fahrstuhl schon wieder zu. Da bin ich immer noch mit da.

Pflegemutter: Wir merken schon, dass Julien nicht die sozialen Kontakte wie gesunde Jugendliche hat. Das macht es ihm auch schwerer. Gerade in der Pause ist es so, dass er nicht mitreden kann, wenn sich die Jugendlichen darüber unterhalten, wo sie sich am Wochenende getroffen haben. Das fehlt ihm, und das frustriert ihn auch manchmal.

Dadurch, dass es eine „Freie Schule“ ist, kommen die Schüler von überall her. Julien hat niemanden hier im Umkreis, wo er auch mit dem E-Rolli sagen kann, wir treffen uns einfach mal. Er hat einen Freund, der kommt zu uns, weil wir für den Rollstuhl besser ausgestattet sind.

Julien: Die Jugendlichen in meiner Klasse haben schon andere Interessen als ich. Viele gehen raus, treffen sich mit Freunden. Ich sage, dass ich durch die ganze Hilfe und Kontrolle weniger Freunde habe.

Pflegemutter: Es ist schon so. Im Sommer wird es, denke ich, wieder besser, wenn Hofpause ist.

Julien: Das ist nicht anders. Die spielen Fußball, und ich fahre halt meine Runden. Lydia: Da kommt auch mal jemand aus einer anderen Klasse und läuft eine komplette Runde mit dir.

Pflegemutter: Wenn wir zu Hause darüber sprechen, dass niemand zu ihm kommt, motiviere ich Julien: „Geh du auf die anderen zu. Du darfst nicht immer erwarten, weil du ein Handikap hast, dass sie alle zu dir kommen. Geh du hin, sprich sie an. Und selbst wenn du dich nur mit hinstellst und mit zuhörst.“

Julien: Was soll ich da zuhören? Wenn ich das doch wenig oder nie in meinem Leben mache, was soll ich da zuhören?

Pflegemutter: Julien ist ja nicht auf den Mund gefallen. Ich sage immer: „Alles was er körperlich nicht kann, macht er eigentlich mit dem Mund. Zu Hause quatscht er mich manchmal richtig zu.“

Julien: Mein eigentliches Berufsziel wäre Radio-Moderator gewesen, aber da kommt wieder das Lesen dazu. Das ist halt – langsam.

Julien: Mein eigentliches Berufsziel wäre Radio-Moderator gewesen, aber da kommt wieder das Lesen dazu. Das ist halt – langsam. Jetzt weiß ich eigentlich gar nicht so richtig, was ich machen will. Das war eigentlich mein einziger Wunsch, den ich immer hatte.

Pflegemutter: Julien geht nach der Schule nach Dresden ins Berufsbildungswerk für Körperbehinderte. Dort gibt es 18 Ausbildungsberufe. Das erste Jahr durchläuft er erst einmal alle Bereiche, um zu schauen, was ihm gefällt, was er mit seiner Behinderung machen kann. Dort ist ein Internat angeschlossen. Dadurch, dass es direkt für körperbehinderte Jugendliche ist, ist die Versorgung gewährleistet. Ich denke, dass er dort auch noch einmal ein ganzes Stück selbständiger wird. Und eben auch Freunde findet, die manches auch verstehen können und weil sie selbst irgendein Handikap haben.

Hier bei uns in der Region gibt es sehr viel für Menschen mit geistiger Behinderung, aber für rein körperbehinderte Menschen, beispielsweise eine Wohngruppe oder so, gibt es hier nichts. Und dann fühlt sich Julien auch immer fehl am Platz. Die geistige Herausforderung braucht er schon. Zu Hause üben wir deshalb seine Selbständigkeit. Ich gehe dann extra aus dem Raum, so dass er alleine klarkommen muss. Er schafft das. Mir tut das dann auch manchmal leid, weil es viel länger dauert. Und ich weiß auch, dass es anstrengend ist. Mit Sicherheit helfen wir Julien zu Hause zu viel. Wir hoffen, dass er im Internat wirklich nochmal eine ganze Menge an Selbständigkeit und auch Selbstbewusstsein erlernt. Weil er möchte ja gern – das sagst du:

Julien: Ich möchte alleine wohnen.

Pflegemutter: Er will nicht in ein Wohnheim.

Julien: Eine WG wäre schon cool.

Pflegemutter: Eine WG mit Körperbehinderten wäre cool. In Dresden ist das sicher auch möglich. Julien freut sich unheimlich auf Dresden, und zwischendrin kommt dann mal: „Ich glaube, ich bin noch nicht soweit.“ Dann sage ich: „Die Option, wieder nach Hause zu kommen, die ist immer da.“

Interview geführt am: 25.04.2024

Interview veröffentlicht am: 09.07.2024

Schulbegleiterin Lydia, Pflegemutter Mandy und Julien

Schulbegleiterin Lydia, Pflegemutter Mandy und Julien