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Ein Leben ohne Töne

Birgit Posselt nimmt uns mit in ihre „stille Welt“

Stille. Nichts. Kein Rauschen, kein Fiepen, keine Melodie. Birgit Posselt ist gehörlos. Sie lädt uns ein, ihre „stille Welt“, so bezeichnet sie sie selbst, etwas kennenzulernen. „Ich kenne es nicht anders, ich vermisse nichts und fühle mich in meiner stillen Welt wohl“, beschreibt sie mit Gebärden und Mimik. „Meine Eltern sind auch gehörlos und ich bin es von Geburt an.“

„Meine Augen sind doppelt stark“

Dafür kann Birgit Posselt bereits auf Vibrationen in der Umgebung reagieren, spürt, wenn etwas nicht stimmt und hat die Gabe ihr Umfeld genau zu beobachten. „Ich sage von mir selbst, meine Augen sind doppelt stark. Ich nehme Kleinigkeiten im Augenwinkel wahr. Wenn ich in der Stadt bin und viele Menschen um mich herum sind, nehme ich Menschen sofort wahr, die sich anders bewegen und ich erkenne andere gehörlose Menschen“. Das hilft ihr auch daheim in den eigenen vier Wänden. Ihre Familie ist ebenfalls gehörlos. „Wenn unsere Katze mit den Ohren zuckt, da weiß ich bereits, es kommt gleich jemand um die Ecke. Oder ich spüre Vibrationen aus dem Kinderzimmer und schaue nach, ob alles in Ordnung bei meinen Kindern ist“.

Diese Fähigkeiten besonders gut zu spüren, helfen Birgit Posselt auch, Situationen rechtzeitig wahrzunehmen. „Ich spüre viel und achte sehr auf die Mimik, aber als meine Kinder noch Kleinkinder und wilder waren, habe ich sie immer nahe bei mir gehabt und unterwegs immer an der Hand, da ich sie nicht rufen konnte wie andere Mütter“. Als ihre Kinder noch im Babyalter waren, gab es ein Babyphon, das Signale über Licht sendete. „Ich war dennoch nachts oft mehr wach, als nötig gewesen war, besonders im Krankenhaus ohne das Babyphon. Bei meiner Mutter war es anders, sie musste bei mir als Säugling fühlen, ob ich weinte“, erzählt sie rückblickend. Über Licht funktioniert bei Familie Posselt auch die Haustürklingel oder der Wecker.

Gebärdensprachdolmetscher sind Kommunikationsbrücken

Die Muttersprache der vierköpfigen Familie ist die Deutsche Gebärdensprache. „Meinen Mund nutze ich nicht zum Sprechen. Ich kann meine Lautstärke nicht regulieren und kontrollieren. Es gibt andere Gehörlose, die setzen ihre Stimme ein und können es unterschiedlich gut,“ erklärt die sympathische Frau. In Gebärden zu kommunizieren ist für mich, wie wenn ein Hörender seine Stimme nutzt. Zettel oder Stift sind kein Ersatz, eher eine Notlösung. „Für tiefgründige Gespräche sind Gebärden einfach notwendig und die Informationen sind klarer“, ergänzt sie. „Hörende Menschen sprechen auch lieber als aufzuschreiben, wenn es um lange Gespräche geht“.

Gebärdensprachdolmetscherin, Sindy Christoph als Gast beim Gespräch ergänzt: „Wir Gebärdensprachdolmetscher haben eine große Verantwortung und müssen uns immer bewusst sein, dass wir eine Macht haben, die wir nicht ausnutzen dürfen. Es ist daher wichtig transparent zu gebärden und auch die Atmosphäre vor Ort wiederzugeben. Ich bin dankbar für das Vertrauen, was ich von den Gehörlosen erfahre.“

Für gehörlose Menschen sind Gebärdensprachdolmetscher wichtige Kommunikationsbrücken. Sie können sich die Leistung der Dolmetscher bestellen und müssen diese oft privat bezahlen. Leistungsträger übernehmen auf Antrag die Kosten zum Beispiel für den Krankenhausaufenthalt oder für Beratungsgespräche bei der Arbeitsagentur.

Die Aufforderung zum Rückruf ist eine Barriere

„Ich ärgere mich immer wieder über Post von Behörden, die um einen telefonischen Rückruf bitten, den ich nicht leisten kann. Das ist für mich eine Barriere. Ich muss mir dann Unterstützung von Hörenden holen“, berichtet die 41-Jährige. Das kostet die Familie Posselt wie auch anderen Gehörlosen viel Kraft. „Uns kommt wenig Verständnis von Behörden entgegen. Immer wieder müssen wir Leistungen neu beantragen. Wir müssen viel Papier ausfüllen, lange warten und kommen schwer an Antworten“, sagt Birgit Posselt.

Bildung chancengleich und inklusiv gestalten

Als ihr Sohn damals in den Kindergarten kam, haben sie um einen Gebärdensprachdolmetscher als Assistenten für ihn gekämpft.  Leider ohne Erfolg.  Erst bei der Tochter ist diese Unterstützung gewährt worden. Das gleiche setzte sich fort, als ihre Kinder in die Schule kamen. Sie gehen in ein Förderzentrum für Hörgeschädigte. Hier haben sich die Posselts wie auch andere Eltern gehörloser Kinder Gebärdensprachdolmetscher erkämpft. Das ist eine Zwischenlösung und nicht im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention, die seit elf Jahren in Deutschland gilt. Nach wie vor fehlt es an Lehrer*innen, die bereits Gebärdensprache im Studium lernen können.

Birgit Posselt wünscht sich für ihre Kinder einfach bessere Bildungschancen als sie damals selbst erfahren konnte. „Ich musste mich in meiner Schulzeit an die Welt der Hörenden anpassen, Wissen ist mir wenig vermittelt worden und meine Fragen konnten die Lehrer, die keine Gebärdensprache konnten, nicht beantworten. Dadurch entstanden ganz klar Konflikte und Konfrontationen. Das war anstrengend, frustrierend und ich konnte mich nicht frei fühlen.“ Heute bricht ganz langsam dieses Dogma auf, das geschichtlich auf den Mailänder Kongress von 1880 europäischer Pädagogen zurückzuführen ist, wo per Beschluss die Lautsprache über die Gebärdensprache übergeordnet worden ist.

Nur wenige Gehörlose arbeiten im Traumjob

„Ich wollte ursprünglich Lehrerin werden“, erzählt Birgit Posselt. Durch ihren Schulabschluss war dies einfach nicht möglich. „Für Gehörlose gibt es nach wie vor nur eine kleine Auswahl an Berufen, die sie erlernen können oder dürfen und wenig zufriedenstellende Beratung durch die Agenturen. Viele Gehörlose haben nicht den Traumberuf erlernen können.“ „Viele Gehörlose haben Angst vor der Arbeitslosigkeit und nur wenige haben den Mut sich beruflich zu ändern.“ Birgit Posselt hat sich beruflich verändert und arbeitet nun bei Scouts – Gebärdensprache für alle und ist als Dozentin für Gebärdensprache tätig. Sie unterrichtet Eltern in Gebärdensprache, deren Kind(er) gehörlos sind. Dabei schätzt sie das barrierefreie Arbeitsumfeld, den Austausch mit Kollegen*innen in Gebärdensprache und die Wertschätzung durch die Geschäftsleitung.  

Lockeres Einkaufen wie bei jedem anderen ist nicht möglich

Barrieren begegnen Birgit Posselt im Alltag viele. „Bei unserem Fleischer und Bäcker, der uns kennt, kann ich zeigen, was ich kaufen möchte. In die Stadt zum Einkaufen gehe ich selten und wenn ja, informiere ich mich vorher im Internet, zum Beispiel als der Schulranzen-Kauf für die Tochter anstand. Es gibt freundliche Verkäufer, aber auch welche die sich scheuen. Ich wünsche mir so sehr eine Beratung in Gebärdensprache zum Beispiel in der Drogerie. Damit ich nicht immer alle Cremes durchprobieren muss, sondern gleich die passende Empfehlung von der Verkäuferin bekomme“, verdeutlicht Birgit Posselt diese sprachliche Hürde.

„Mir fehlt nur das Hören, sonst kann ich alles.“

Weniger Barrieren würden den Alltag und das Leben von Gehörlosen erleichtern. „Ich wünsche mir Respekt, weniger Diskriminierung und mehr Selbstverständlichkeit für die Deutsche Gebärdensprache. Sie ist eine so schöne Sprache. Sie ist freundlich, lebendig und so reich an Mimik und Gestik. Mir fehlt nur das Hören, sonst kann ich alles. Ich kenne das Gefühl von Hörenden unterdrückt zu sein, als ob die Hörenden über einen stehen würden“.
 

 

Freundlich lächelnde Frau mit blonden, zusammengebundenen Haaren, blickt in Kamera

Birgit Posselt it gehörlos von Geburt an. Sie sagt zufrieden: "Ich sehe mit meinen Augen doppelt stark". Foto: Christine Jeglinsky