Hilfsmittel auf vier Pfoten
Ich bin neugierig und auch etwas aufgeregt. Ich lerne heute ein Hilfsmittel kennen. Nein, ein Rollstuhl ist es nicht und auch keine "Krücke". Es hat vier Beine und heißt Morri. Andreas Schneider nimmt mich mit auf einen Spaziergang mit seinem Blindenführhund Morri. Wir erkunden Meißen. Ich schließe mich den beiden vertrauensvoll an. Morri trägt spezielles Führgeschirr, bestehend aus weißer Leine, Führbügel, Glöckchen und Kenndecke mit der Aufschrift „Blindenführhund" – NICHT ABLENKEN Bin im Dienst!“ So ist er rechtlich gesehen gut als Blindenführhund im Einsatz erkennbar.
Bitte nicht streicheln!
Es fällt mir schwer, dem Großpudel nicht über das so einladend weiche Fell zu streichen. Morri ist im Dienst und darf nicht von Fremden gestreichelt werden, das würde ihn von seiner Arbeit ablenken. Morri muss sich konzentrieren, denn er muss Andreas Schneider zu 100 Prozent gehorchen. Und zwar nur ihm. Dabei ist auch hundertprozentiges Vertrauen aufeinander unabdingbar.
Andreas Schneider und Morri sind ein perfekt aufeinander abgestimmtes Duo. "Morri, such Lift" oder "such Ampel" sind zwei von ca. 36 Befehlen, die Hund und Halter kennen müssen. Die beiden sind ordentlich schnell zu Fuß. Ich bin beeindruckt und versuche, dem sicheren Schritt der beiden zu folgen. "Ein Blindenführhund kennt keine Landkarte. Ich muss den Weg kennen und gebe die Kommandos. Morri muss mich führen“, erklärt mir Andreas Schneider.
Auf dem Weg durch Meißen laufen wir auch durch den Bahnhof – Morri mag Züge und vor allem das Zug Fahren. Hier lerne ich auch, dass ein Blindenführhund keine Rolltreppe nutzen darf. Ich sehe, wie der Hund seinen Halter vor Hindernissen warnt. „Morri zeigt mir an, wenn eine Treppe kommt, indem er davor stehen bleibt. Er muss mir auch die Absätze zwischen den Treppen zeigen“. Morri sucht für seinen Halter ebenso einen anderen Weg, wenn das Hindernis nicht zu bewältigen ist.
Vom Welpen zum Blindenführhund
Bei einer kleinen Pause am Bahnhof in Meißen erfahre ich, wie Morri und Andreas Schneider zusammengekommen sind. „Ein Blindenführhund ist ein Hilfsmittel und wird per Rezept vom Augenarzt verordnet und bei der Krankenkasse beantragt“ beschreibt Andreas Schneider den Verfahrensweg. „Ich habe lange überlegt, fast drei Jahre, ob ein Blindenführhund das Richtige für mich ist. Ich bin 61 Jahre alt und eigentlich ein sehr guter und schneller Langstockläufer. Zudem bin ich auch für das Tier verantwortlich, und das muss gut überlegt sein.“ In der Regel begleitet ein Blindenführhund seinen Halter gut acht bis zehn Jahre.
Nach vielen Gesprächen mit anderen Hundehaltern von Blindenführhunden und auch dem Einverständnis seiner Frau ist nun „Morri“ seit Mai 2018 Familienmitglied im Hause Schneider. Und der Gesichtsausdruck bestätigt mir, dass es eine der besten Entscheidungen im Leben von Andreas Schneider war.
„Blindenführhund kann nicht jeder Hund werden“, erläutert er weiter. Die wichtigste Voraussetzung ist, dass der Hund kerngesund ist. Den passenden Hund für den Halter sucht der Blindenführhund-Ausbilder bereits im Welpenalter aus.
Aber auch geeignete Junghunde werden gesucht und angekauft. Die Ausbildung selbst dauert etwa ein dreiviertel Jahr und endet mit einer Gespannprüfung – vergleichbar mit der Fahrprüfung.
„Ich habe zum Beispiel gemeinsam mit Morri erst einmal gelernt, geradeaus zu laufen. Anfangs haben wir zusammen am meinem Wohnort in Zehren geübt, dann ging es mit dem Ausbilder weiter bis nach Leipzig auf den Bahnhof“, erinnert sich Andreas Schneider zurück, während wir an den Gleisen sitzen und Morri den Zügen nachschaut. „Bei dem gemeinsamen Training für Hund und Halter unter Anleitung des Ausbilders ging es in Zug, Bus und Straßenbahn. Der Hund muss auch lernen, mit vielen Menschen zurecht zu kommen. Er darf sich auch nicht von anderen Hunden, denen wir begegnen, beeindrucken lassen. Er muss relaxed bleiben und auch der Halter muss lernen, immer Ruhe zu bewahren.“
Tierisches Hilfsmittel
Der Blindenführhund ist ein medizinisches Hilfsmittel nach § 33 Sozialgesetzbuch, welches im Eigentum der Krankenkasse ist – somit trägt sie auch alle Kosten für den Hund. Der Halter darf den Blindenführhund theoretisch überall mitführen – in Praxen, Krankenhäusern oder Geschäften. „Jedoch zählt das Hausrecht der Einrichtung für mich auch. Ich möchte mich mit niemandem anlegen. Mein Augenarzt freut sich zum Beispiel immer, wenn wir kommen, mein Zahnarzt möchte lieber, dass der Hund im Wartezimmer bleibt. Das ist für mich o.k.“, erläutert Andreas Schneider.
„Die Arbeit des Blindenführhundes ist wie Hochleistungssport. Morri muss hochkonzentriert arbeiten. Deshalb ist bei uns ein Tag Arbeit und ein Tag Pause mit Spielen und Rennen“, beschreibt Andreas Schneider.
Nachdem der Regen aufgehört hat, gehen wir weiter. „Morri voran“ ist das nächste Kommando. Andreas Schneider lobt den Hund immer wieder für seine Arbeit und das richtige Führen. „Du bist der Beste, Großer“, sagt er ihm ins Ohr und streichelt und umfasst ihn. „Es ist wichtig, den Hund zu loben und seine Arbeit anzuerkennen, auch wenn der Hund von Natur aus dem Menschen gefallen möchte.“
Positive Nebeneffekte
Wir gehen weiter durch Meißen - über Brücken, durch Gassen und Straßen. „Das Führen unterwegs ist die wichtigste Aufgabe von Morri. Ich muss an meinen Zielen ankommen. So bin ich selbstständig mit Hund.“ Um die besten Nebeneffekte zu verdeutlichen, berichtet mir Andreas Schneider von folgender Situation: „Ich war unterwegs zur Arztpraxis und hörte, wie sich zwei Frauen unterhielten. Als sie mich bemerkten, stellten sie das Gespräch ein. Nun wusste ich aber nicht mehr, wo diese sich befinden, um ihnen auszuweichen. Ich habe sie nach meinem Besuch in der Praxis angesprochen.“ Das passiert ihm heute mit Hund nicht mehr. „Ich werde als blinder Mensch viel besser wahrgenommen und es haben sich neue Kommunikationswege eröffnet.“ Mit Hund ist „Mann“ eben schneller im Gespräch.
„Durch den Hund bleibe ich in Bewegung. Wir sind locker sechs bis acht Kilometer am Tag unterwegs und das hält mich gesund“, sagt der durchaus bereits sportlich wirkende Halter. Nun laufen wir über die Neugasse in Meißen. „Diese Bushaltestelle kann ich nicht nutzen“, sagt Andreas Schneider. Ich bin verblüfft und frage, warum. Es fehlt das entsprechende Blindenleitsystem und die Umgehung, denn um die Haltestelle stehen Bänke und andere Hindernisse wie Fahrradständer.
Ehrenamtlich im Dienst
Andreas Schneider ist erster stellvertretender Vorsitzender im Blinden- und Sehbehindertenverband Sachsen e. V. und engagiert sich als Rentner ehrenamtlich. Er versucht, durch seine Arbeit Barrieren in den Köpfen und im Bau abzubauen.
„Morri“ ist deshalb auch sein Bürohund. Andreas Schneider sitzt viel am Rechner und koordiniert die Arbeit für den Verein. Dabei sitzt Morri bei ihm. „Oft kommt Morri schauen, was ich mache und haut auch manchmal auf die Tasten“, berichtet schmunzelnd der gelernte Schlosser, der sein Arbeitsleben in der Meißner Porzellanmanufaktur verbrachte. Die Arbeit im Verein nimmt er sehr ernst: „Bis zu sechs Tage die Woche umfasst dieses Ehrenamt, wohlgemerkt ohne Aufwandsentschädigung.“ Oft ist es auch frustrierend, wenn – bildlich gesprochen – immer wieder auf Granit gestoßen wird. Dabei ist Andreas Schneider das inklusive und respektvolle Miteinander sehr wichtig.
Mehr Teilhabe durch den Hund
„Morri, such Bäcker“, ist der spielerische Befehl und wir sind im Nu beim nächsten Bäckerladen. Hier bekommt der Hund frisches Wasser vom Bäckermeister. Eine kurze Trinkpause für den Vierbeiner im Dienst. „Ich liebe es, mit dem Hund unterwegs zu sein und es macht mir viel Spaß“, erzählt Andreas Schneider freudig und herzlich ehrlich.
Alle acht Wochen fahren Morri und er zum Friseur. Morris Fell braucht Pflege und auch die Ohren müssen von Haaren frei gehalten werden. Überhaupt liegt das Wohl von Morri Andreas Schneider am Herzen. „Es ist ein Hilfsmittel mit Seele und ich bin verantwortlich für das Tier."
Im Allgemeinen hat sich für Andreas Schneider die Tür der Teilhabe durch den Hund mehr geöffnet, was auch die folgende Geschichte bestätigt: „Jugendliche an der Haltestelle fragten mich zum Beispiel, ob sie die Musik leiser drehen sollen, aber ich höre ja selbst gerne Musik und kam mit den jungen Frauen und Männern ins Gespräch.“
Wir laufen zurück zum Bahnhof Meißen. Morri und Andreas Schneider begleiten mich nach Dresden, denn wie erwähnt fahren beide gerne Zug. Unterwegs höre ich noch viele Geschichten und Anekdoten aus dem Leben mit dem Hund. „Wir waren an der Elbe frei spazieren. Als sich Touristen vor einem Dampfer fotografieren lassen wollten, sprang Morri einfach ins Bild. Er lässt sich eben gerne fotografieren.“
Es war ein sehr aufschlussreicher Vormittag. Vielen Dank, dass ich kurz Teil des Rudels sein durfte.
Rechtsfragen zum Blindenführhund:
www.dbsv.org/rechtsfragen-zum-blindenfuehrhund.html
Informationen zum Blinden- und Sehbehindertenverband Sachsen:
www.bsv-sachsen.de/WP_2015/
Text und Fotos: Christine Jeglinsky