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Schule einmal anders

Tina Buchner klärt über das Blindsein auf und sensibilisiert für mehr Achtsamkeit

„Wer von den beiden Frauen ist denn blind?“, tuschelt Charlotte* zu Hanna*. Sie stupsen sich gegenseitig an und überlegen auf ihre Art. Hanna sagt: „Die sieht gar nicht blind aus“. Im Klassenzimmer der Klasse 3 a in der 81. Grundschule in Dresden-Dölzschen klingelt es zur Stunde. Es wird still. Die Kinder wissen, heute ist der Unterricht anders. Ihre Lehrerin steht nicht vorne, sondern sie sitzt bei den Kindern. Heute stehen Tina Buchner und ihre Assistentin Marina vorne. Tina Buchner ist blind. Sie ist gekommen, um den Kindern ein Gefühl zu geben, wie es ist nichts zu sehen, und nimmt die Mädchen und Jungen mit in ihren etwas anderen Alltag.


Blindenstock probieren

Tina Buchner zeigt als erstes ihren Blindenstock. Den brauchte sie heute Morgen, um in die Schule zu kommen. Damit fühlt und spürt sie Hindernisse auf dem Weg. „Wer traut sich von Euch den Blindenstock auszuprobieren?“, fordert sie die 3. Klässler auf. Schnell sind fast alle Arme oben.  Amelie* lässt sich von der Assistentin Marina die Augen verbinden und führen. Dann soll sie stehen bleiben und den Rufen und dem Klopfen von Marina folgen. Alle sind ruhig und beobachten, wie Amelie sich mit dem Langstock bewegt und ihre Hände nutzt, um sich unsicher vorzutasten. Intuitiv rutschen alle beiseite, als sie den sitzenden Kindern näherkommt. „Hier bin ich. Nimm deinen Stock zur Hilfe“, ruft die Assistentin.  Es ist geschafft. Die Klassenkameraden klatschen. Amelie beschreibt ihre Erfahrung: „Es war ungewöhnlich. Ich wusste nicht, wohin ich gehen sollte. Ich fühlte mich unsicher“. Für Tina Buchner war es anfangs auch schwer, mit dem Blindenstock zu gehen. Es brauchte viel Übung und die Scheu musste überwunden werden.

Die junge Frau verlor durch einen schweren Unfall 2011 ihr Augenlicht. Schnell ist zwischen den Kindern und ihr das Eis gebrochen. Die ersten Fragen brennen den Kindern unter den Nägeln. Sie rutschen auf ihren Stühlen hin und her. Tina Buchner strahlt Ruhe und Gelassenheit aus. Sie ist gespannt und neugierig auf die Fragen der 9-Jährigen und beantwortet sie ausführlich. „Wie findest du nach Hause“, fragt ein Junge. „Ich kenne den Weg und durch meinen Stock spüre ich die bekannten Hindernisse auf dem Weg. Komme ich an der Ausfahrt bei der Kaufhalle vorbei, weiß ich, ich muss noch 36 Schritte zählen und bin am Eingang“. Nach dem unverschuldeten Unfall vor 8 Jahren bekam die Dresdnerin auch ein Mobilitätstraining, bei dem wichtige Wege zu Fuß oder per Bus und Bahn geübt worden sind, damit Tina Buchner selbstbestimmt zum Beispiel zur Apotheke oder zur Kaufhalle gehen kann. Selbst die Fahrt in die Innenstadt mit der Straßenbahn macht sie alleine. Bei unbekannten Wegen hilft ihr die Assistentin.

Dann spielt sie den Kindern ein Geräusch vor – es ist ein Klicken. „Bei dem langsamen Klicken, weiß ich die Ampel ist rot. Ist das Klicken ganz schnell, weiß ich, es ist grün und ich kann gehen“, beschreibt Tina Buchner. „Wenn die Straße keine Ampel hat, freue ich mich, wenn mir jemand über die Straße hilft, sonst muss ich nach beiden Richtungen genau hören. Aber wenn mir jemand helfen möchte, bitte nicht einfach an meinen Arm zerren, sondern mich ansprechen“, erklärt sie den Kindern und vermittelt Verständnis und Achtsamkeit füreinander. Im Lehrplan der 3. Klasse sind die fünf Sinne ein großes Thema im Sachunterricht. Zum Sehen gehört auch das Fühlen und das müssen blinde Menschen sehr viel.

 

Brailleschrift erspüren

Tina Buchner lässt ein Stück Papier durch die Reihen geben. Es sind kleine Huckel zu erspüren. Sie zeigt und erklärt den Mädchen und Jungen wie die Blindenschrift aussieht und wie sie diese schreibt, nämlich spiegelverkehrt. Dazu holt sie eine spezielle Schablone und einen Stift heraus. Darin legt sie ein Papier und prägt die Punkte ein. Nun darf auch wieder ein Kind probieren. Selma* soll „Hallo“ nach den Beschreibungen von Tina Buchner mit verbundenen Augen in Brailleschrift schreiben.  Gar nicht so einfach. „Ich wusste gar nicht, wo die Zeilen waren“ beschreibt das Kind seine Erfahrung.

2015 wurde die Idee geboren, dass Tina Buchner an Schulen in Dresden und Umland geht, um im Sachunterricht über das Blindsein in kindgerechter Weise zu informieren. Es macht ihr sichtlich Freude und erfüllt die ehemalige Kinderkrankenschwester.

 

Ich sei weltberühmt

Die Besuche an den Grundschulen macht Tina Buchner auf Anfrage. Sie empfindet die Einladung der Lehrer*innen als Dank genug, sagt sie immer wieder bescheiden. Denn ihre Mission ist, Aufklärung und Sensibilisierung füreinander. Die blinde Frau erlebt leider oft, wenn sie mit Bus und Bahn unterwegs ist, dass gerade größere Kinder und Jugendliche ihr keinen Platz anbieten oder gar Falschinformationen geben. Das möchte sie mit ihrem „Unterricht“ ändern. Ein kleines bisschen hat es schon gewirkt. „Als ich auf dem Weg zu meiner Wohnung mit dem Blindenstock ein Hindernis erspürte, was da sonst nicht war, war ich mehr als irritiert. Ein Mädchen sprach mich an, ob sie mir helfen könne. Freudig nahm ich die angebotene Hilfe an. Nachdem sie mich um die Baustelle herumgeführt hatte, bedankte ich mich und meinte, dass es doch sehr selten ist, dass mir Kids Hilfe anbieten. Sie lachte nur und meinte, dass ich in ihrer Schule doch weltberühmt sei und da müsse man mir ja helfen“, berichtet Tina Buchner.

Doch zurück zur Klasse 3 a in Dölzschen. Hier versucht Mathilde* ein Glas Wasser mit verbundenen Augen einzugießen, ohne daneben zu kleckern. Gar nicht so einfach. Vorsichtig und überlegt geht das Mädchen vor. Wann ist das Glas voll und wann nicht? Es läuft nix über. Tina Buchner erklärt, sie musste damals auch üben, nach Hören einzugießen und über das Gewicht und die Verteilung zu erspüren, ob das Glas halbvoll oder voll ist.

 

Schmecken ohne zu sehen

Es wird immer spannender. Nun soll die Klassenlehrerin auch mitmachen. Tina Buchner lädt sie ein, mit verbundenen Augen etwas zu essen und zu erschmecken. Mit verbundenen Augen soll sie notieren, nach was es schmeckt. Nun gilt hier nicht mehr „das Auge isst mit“. Die 25 Kinder versammeln sich um ihre Klassenlehrerin und kichern und hüpfen, weil nun auch ihre Lehrerin einmal dran ist. Es ist ein Erlebnis für sie und die Kinder. Was ihr zu Essen gereicht worden ist, hat sie nicht erraten können. Aber der selbstgebackene Mohnstollen hat gut geschmeckt.

Zum Abschluss wurden zwei Kinder gebeten, mit verbundenen Augen ein Brot mit Frischkäse zu schmieren. Keine leichte Aufgabe, aber machbar. Und geschmeckt hat es. Um das Blindsein zu begreifen, hat Tina Buchner ganz bewusst die alltäglichen Dinge gewählt, die alle kennen – eben das Essen, Trinken, Schreiben, Kleidung auswählen oder sich orientieren, um die Kinder „abzuholen“ und sie für das Nichtsehen können zu sensibilisieren.

Es klingelt wieder. Diesmal zur Hofpause. Die zwei Unterrichtsstunden vergingen wie im Flug. Frau Buchner wird wiederkommen.

 

Anfragen an Tina Buchner
Tina Buchner besucht ehrenamtlich sowohl Kindergärten (Vorschulgruppe) als auch Schüler in der Grundschule bzw. weiterführenden Schule entsprechend dem Lehrplan zum Thema Sinne. Anfragen können Lehrer*innen über diese Internet-Seite stellen:  

www.sensibilisierung-fuer-das-anders-sein.de/

*Anmerkung der Redaktion: Die Namen der Kinder sind aus datenschutzrechtlichen Gründen geändert.

Tisch mit Geschirr, Brot und Frischkäse. Zwei Kinder versuchen mit verbundenen Augen das Brot zu schmieren.

Kinder schmieren mit verbundenen Augen ein Brot mit Frischkäse. Vertrautes ist plötzlich so fremd. Ein Gefühl für Blindsein bekommen.

Tina Buchner steht vor der Tafel, Frau lächelt und hält ihren Langstock in der Hand.

Tina Buchner zu Gast in der 81. Grundschule. Die 37-jährige Frau ist unverschuldet erblindet.