Markus Hutschenreuther, Radeberg
Ich arbeite seit ungefähr 10 Jahren im sächsischen Epilepsiezentrum Kleinwachau im Wohnbereich in verschiedenen Gruppen. Ich habe erst in verschiedenen Wohnheimgruppen und Außenwohngruppen gearbeitet. Jetzt kümmere ich mich um Menschen im ambulant betreuten Wohnen.
Frau N., Frau W. und Frau R. (siehe Interview: Wohngruppe Radeberg) haben in einem sehr langen Prozess dafür gekämpft, Barrieren, die manchmal auch in einer großen Einrichtung bestehen, zu überwinden Zu DDR-Zeiten wohnten sie auf einer Station als Patienten. Nach der Wende als Bewohner im Heim und später in einer Außenwohngruppe.
Inklusion ist auf Einrichtungsseite durch das ambulant betreute Wohnen schon ganz gut realisiert. Aber auf gesellschaftlicher Ebene gibt es noch viele Hindernisse.
Jetzt sind sie normale Mieter und erhalten ambulante Unterstützungsangebote durch das ambulant betreute Wohnen. Jetzt ist die Einrichtung für die Frauen wirklich nur noch eine Unterstützung und keine Barriere mehr. Wir merken aber immer mehr, dass es noch gesellschaftliche Barrieren gibt. Da können wir jetzt weitermachen.
Inklusion ist auf Einrichtungsseite durch das ambulant betreute Wohnen schon ganz gut realisiert. Aber auf gesellschaftlicher Ebene gibt es noch viele Hindernisse. Das sieht man z. B. im öffentlichen Nahverkehr, wenn die Klapprampen kaputt sind oder ähnliches. Und flache Busse fahren hier kaum.
Ich habe in der Vergangenheit das Projekt „Politik für und mit Menschen mit einer geistigen Behinderung“ betreut.
Bei dem Projekt „Politik für und mit Menschen mit einer geistigen Behinderung“ ging es darum, im Vorfeld der letzten Bundestagswahl mit den Parteien ins Gespräch zu kommen, um ihnen Menschen, die behindert werden, als Wählergruppe vorzustellen. Denn ein großer Teil der Wahlwerbung erreicht diese Adressatengruppe nicht. Auch die Behindertenhilfe hat diese Menschen als mögliche Wähler oft nicht auf dem Schirm. Es wird teils davon ausgegangen, dass Wahlen für diese Menschen nicht von Interesse sind oder dass die Fähigkeiten, am politischen Diskurs partizipieren zu können, nicht vorhanden sind. Durch die fehlende Konfrontation mit politischen Themen kommt es zu einer Unterforderung, die das Ausprägen und Trainieren der hierzu nötigen Fähigkeiten verhindert. Und es gibt generell wenig Interesse an und Interaktion mit diesem Wahlklientel. Dabei sind Menschen mit geistiger Behinderung schon eine gehörige Wählergruppe, die aber zurzeit unterrepräsentiert ist.
Also habe ich verschiedene Parteien angeschrieben, unter anderem die SPD, CDU, die Grünen, die Linke und auch die AfD. Abgesehen von der AfD habe ich von den Parteien auch Rückmeldung bekommen. Deshalb haben wir die AfD im Zuge dieses Projektzyklus auch nicht besucht. Die Parteien hatten im Rahmen des Projekts die Möglichkeit, beispielsweise Workshop-Veranstaltungen abzuhalten. Wir haben z. B. die Grünen im sächsischen Landtag besucht. Die haben uns generell erzählt, wie Politik funktioniert und was sie im sächsischen Landtag erreichen wollen, und haben das auch sehr gut in einfacher Sprache vorgetragen. Auch hatten sie gutes Wahlmaterial in einfacher Sprache. Sie haben sich sehr um das Thema Inklusion in ihrem Programm bemüht. Die Linken haben wir auch besucht. Die hatten ein sehr schönes Planspiel, wo wir selbst Parteien gegründet haben und mit den Parteien in den Wahlkampf gezogen sind. Wir konnten so Politik hautnah miterleben. Die SPD haben wir in ihrer Parteizentrale besucht. Die hatten einen PowerPoint Vortrag und – was sehr interessant war – einen blinden Selbstvertreter, der bei der SPD in der „Arbeitsgemeinschaft Selbst Aktiv“ (Menschen mit Behinderungen in der SPD) mitarbeitet. Die Teilnehmer hatten großen Respekt. Unter vorgehaltener Hand wurde geflüstert: „der ist ja wirklich behindert“. Dass jemand mit subjektiv größeren Einschränkungen politisch aktiv ist, imponierte.
Wir haben auch noch die CDU besucht, wieder im sächsischen Landtag. Es gab spannende Diskussionen. Wir haben uns den Aktionsplan zur Umsetzung der UN Behindertenrechtskonvention des Freistaats Sachsen angeschaut und ihn ein wenig kommentiert. Das war der erste Teil dieses Projektzyklus.
Schließlich ist es nach den Grundsätzen einer inklusiven Gesellschaft nicht verständlich, warum Menschen aufgrund einer Behinderung in einer speziellen Einrichtung leben und arbeiten müssen.
Alle Parteien betonten ihre Unterstützung inklusiver Ansätze. Also habe ich alle Parteien noch einmal ins Rathaus in Radeberg zu einem speziellen Workshop und einer Podiumsdiskussion eingeladen. Da haben die CDU, die SPD, die Linke und die Grünen teilgenommen. Sie haben sich auf der Bühne noch einmal mit ihrem Parteiprogramm vorgestellt. Sie haben in kleinen Workshops auf persönlicher Ebene mit den möglichen Wählern gesprochen, und dann gab es noch eine Abschlusspodiumsdiskussion. Hier unterschied sich das Verständnis von Inklusion deutlich. Der Vertreter der CDU, Gernot Krasselt, plädierte für das Fortbestehen der Trennung zwischen dem sogenannten ersten und zweiten Arbeitsmarkt. Auch die geringe Entlohnung begrüßte er mit der Begründung, dass viele Leistungen durch den Staat finanziert werden. Dies löste bei einigen Teilnehmern Empörung aus. Viele wollen anstatt einer paternalistischen Wohlfahrtsumsorgung mehr Eigenverantwortung übernehmen. Eine gesellschaftsübliche Entlohnung könnte das Selbstwertgefühl steigern und aus Beschäftigten „Mitarbeiter“ und aus „Bewohnern“ Mieter machen. Beispielsweise durch die Einführung eines Mindestlohnes könnten gegebenenfalls viele staatliche Subventionen entfallen, welche die Menschen an separierende Parallelstrukturen binden. Schließlich ist es nach den Grundsätzen einer inklusiven Gesellschaft nicht verständlich, warum Menschen aufgrund einer Behinderung in einer speziellen Einrichtung leben und arbeiten müssen. Wenn Menschen beispielsweise Teile für die Industrie herstellen, muss das ja nicht zwingend an einem gesonderten Ort stattfinden.
Aktuell liegt meine Priorität in der Netzwerkarbeit für das Netzwerk inklusive politische Bildung (NipB) und bei der Parade der Vielfalt in Dresden. Das Netzwerk NipB hat das Ziel, Initiativen zusammenzubringen, die sich mit politischer Bildung für Menschen, die behindert werden, beschäftigen. Bei dieser Arbeit stellte sich für mich auch immer mehr die Frage: warum mache ich solche Projekte stellvertretend? Warum unterstützte ich nicht direkt Menschen, die behindert werden, solche Projekte zu machen? Deshalb haben wir im Netzwerk recht schnell so genannte Selbstvertreter mit ins Team geholt. Und diesen Anspruch versuche ich auch in meinen Projekten und in meiner Kommunikation immer stärker einzubinden. Neben Herrn P. und Frau F. waren dann Frau N. und Frau W. meine erste Wahl als Selbstvertreterinnen. Frau N. und Frau W. weisen immer wieder auf gesellschaftliche Missstände oder Behinderungen hin.
Durch die Fachtage im Netzwerk habe ich schnell bemerkt, dass es zur Unterforderung kommt, wenn Menschen nicht in Entscheidungen eingebunden werden. Frau N. und Frau W. aus der Wohngruppe Radeberg hatten erst ein wenig Respekt vor den Fachtagen, aber als sie dort waren, sind sie aufgeblüht und haben mitgemacht. Sie haben Forderungen eingebracht und Sachen klar formuliert. Und man lernt recht schnell, wie man mit Politikern kommuniziert. Die Teilnehmer der Veranstaltungsreihe „Politik für und mit Menschen mit einer geistigen Behinderung“ haben teilweise noch das Ideal, Sachen verändern zu können. Wenn genügend Leute dieses Ideal noch haben, könnte man vielleicht etwas ändern. Aber wenn man nur eine gesellschaftliche Gruppe ist, über die gehandelt wird, dann ist das schwer.
Wenn etwas nicht barrierefrei ist, liegt das Defizit auf der Seite der Gesellschaft. Die Gesellschaft muss Barrierefreiheit nachweisen und nicht ein Mensch ein Defizit um teilhaben zu können.
Ich mag auch den Begriff ‚Inklusion‘ nicht wirklich, obwohl er eigentlich eine gute Intention hat. Früher sprach man von ‚Integration‘. ‚Inklusion‘ heißt jetzt im Gegensatz dazu, dass man eine barrierefreie Infrastruktur in der Gesellschaft schaffen muss. Aber Inklusion wird oft eher so verstanden, dass eine beeinträchtigte Zielgruppe in die Gesellschaft aufgenommen werden muss. Ich fände es besser, – analog zum Gender Mainstreaming – alle gesellschaftlichen Prozesse darauf zu prüfen, ob sie eine Barriere darstellen könnten (Disability Mainstreaming). Das wäre der Versuch, Barrierefreiheit als Inklusion zu verwirklichen. Denn die politische Lesart der Inklusion zielt immer auf eine Zielgruppe, der ein Defizit zugeschrieben wird. Wenn ich z. B einen Behindertenparkplatz baue, dann ist das keine Inklusion. Denn damit sage ich dem Menschen: „Du bist behindert. Du musst dein Defizit nachweisen und dann kommt die Gesellschaft und baut dir einen Parkplatz.“ Ich fände es viel spannender, wenn es generell nur barrierefreie Parkmöglichkeiten gäbe. Leistungen sollten nicht an den Nachweis eines Defizits gebunden sein. Vielmehr sollte eine barrierefreie Infrastruktur vorgehalten werden, die auch ohne den Nachweis eines Defizits genutzt werden kann. Denn Inklusion heißt Barrierefreiheit. Wenn etwas nicht barrierefrei ist, liegt das Defizit auf der Seite der Gesellschaft. Die Gesellschaft muss Barrierefreiheit nachweisen und nicht ein Mensch ein Defizit um teilhaben zu können.
Markus Hutschenreuther aus dem sächsischen Epilepsiezentrum Kleinwachau gGmbH.
Webseite: https://www.kleinwachau.de/
Interview geführt am: 07.03.2019
Interview veröffentlicht am: 13.05.2019