Anouk, Landkreis Meißen
Ich bin Anouk. Ich bin 18 Jahre alt und habe im letzten Sommer mein Abitur gemacht. Danach habe ich mich entschieden, ein Freiwilligendienst in Russland, in Sankt Petersburg, bei einer russischen Organisation namens „Perspektivy” zu absolvieren. „Perspektivy“ arbeitet mit Menschen mit Behinderungen und engagiert sich vor allem für eine bessere Inklusion dieser Menschen in die russische Gesellschaft, weil es in Russland doch noch so ist, dass diese Menschen sehr außerhalb der Gesellschaft stehen. „Perspektivy“ setzt sich dafür ein, dass sie ein selbstständiges Leben führen und Teilhabe an der Gesellschaft haben.
Deshalb hatte ich Lust nochmal etwas ganz Anderes kennenzulernen und habe der Organisation gesagt, dass ich gerne nach Osteuropa möchte.
Für mich stand schon lange fest, dass ich einen Freiwilligendienst mache, aber ich hätte nicht gedacht, dass ich nach Russland gehe. Ich bin über den Verein „Initiative Christen für Europa“, der hier in Dresden sitzt, nach Russland gegangen. Die hatten ein Orientierungsseminar online angeboten und da habe ich dran teilgenommen. Dort haben ehemalige Freiwillige, Alumni, verschiedene Stellen vorgestellt. Und ich fand generell den Osten sehr interessant. Also es gibt auch Stellen in Frankreich, im Westen Europas, aber über diese Länder weiß man im Allgemeinen schon mehr. Deshalb hatte ich Lust nochmal etwas ganz Anderes kennenzulernen und habe der Organisation gesagt, dass ich gerne nach Osteuropa möchte. Sie haben mir dann die Stelle in Russland vorgeschlagen. Und ich habe einfach zugesagt.
Jetzt werden mittlerweile schon seit 25 Jahren jährlich, wenn nicht gerade eine Corona-Pandemie ist, deutsche Freiwillige nach Sankt Petersburg entsandt, um in Pavlovsk und Peterhof, dem Erwachseneninternat, zu arbeiten.
1992 gründete die Deutsche, Margarethe von der Borch, den Verein „Perspektiven“. Das ist der deutsche Partnerverein von „Perspektivy“, der „Perspektivy“ vor allem finanziell unterstützt. Sie hat dann vor Ort in Sankt Petersburg den Verein „Perspektivy“ aufgebaut. Zustande kam das, als sie Pavlovsk, ein Kinderheim für Kinder mit Behinderungen etwas außerhalb von Sankt Petersburg, besuchte und dort die katastrophalen Zustände gesehen hat. In Russland werden diese Kinder kurz nach der Geburt in Heime abgegeben. Und dort verbringen sie dann ihr ganzes Leben. Bis sie 18 sind, sind sie im Kinderheim. Dann ziehen sie in das Erwachsenenheim um. Die Eltern wollen meistens auch keinen Kontakt mit den Kindern, weil Behinderungen in Russland nicht akzeptiert sind. Das hat sich mittlerweile aber auch etwas geändert. Aber damals lagen die Kinder nur in ihren Betten, wurden gefüttert und gewickelt. Niemand hat sich mit ihnen beschäftigt. Die Organisation „Initiative Christen für Europa“ hat dann zusammen mit Margarethe von der Borch die ersten Freiwilligen dort hingeschickt. Jetzt werden mittlerweile schon seit 25 Jahren jährlich, wenn nicht gerade eine Corona-Pandemie ist, deutsche Freiwillige nach Sankt Petersburg entsandt, um in Pavlovsk und Peterhof, dem Erwachseneninternat, zu arbeiten.
Angefangen hat „Perspektivy“ in Pavlovsk, dann ist das Erwachsenenheim in Peterhof dazugekommen. Und mittlerweile hat „Perspektivy“ auch Tageszentren in Sankt Petersburg, wo es ein Tageszentrum für Erwachsene und eines für Kinder gibt. Ich war im Kindertageszentrum, welches im Norden von Sankt Petersburg liegt. Dort habe ich vor allem pflegerische Tätigkeiten gemacht. Das lag daran, dass die Kinder sehr stark eingeschränkt waren. Sie saßen zum größten Teil im Rollstuhl. Sie konnten nicht sprechen und sich nicht richtig bewegen. Es gab aber auch eine sehr große Spannbreite an Behinderungen. Vier Kinder konnten laufen. Die konnten auch etwas eigeständiger Dinge machen. Aber der Großteil saß im Rollstuhl. Manche mussten über eine Sonde ernährt werden. Daher hat man nicht so viel mit den Kindern machen können.
Die Projekte von „Perspektivy“ werden durch Spenden aus Deutschland finanziert.
Ich habe die Kinder gewickelt, gefüttert und sie aus dem Rollstuhl auf den Boden gelegt. Mit einem Kind konnte ich auch spielen. Am Anfang ist eine Spezialistin ins Zentrum gekommen und hat uns zwei Freiwilligen genau gezeigt, wie man Kinder aus und in den Rollstuhl hebt. Vor allem auch wie man sie anfasst. Das ist ganz wichtig und gar nicht so einfach. Sie hat später auch immer noch kontrolliert, ob wir das richtig machen. Auch beim Wickeln haben sie uns gezeigt, wie man das macht. Und zum Thema Füttern hatten wir auch nochmal ein extra Seminar dazu. Da habe ich schon echt viel gelernt.
Die Kinder im Kindertageszentrum wohnen alle zuhause. Das Ziel ist es, die Eltern zu unterstützen und ihnen etwas Freiraum zu geben, da sie sich sonst 24/7 um die Kinder kümmern, weil sie viel Pflege benötigen.
Zum Teil fördert man die Kinder auch. Denn eigentlich gibt es in Russland für jedes Kind eine Schulpflicht. Das heißt, dass auch Kinder mit Behinderungen eine Schule besuchen müssten. In den meisten Fällen ist dies allerdings nicht möglich. Aber trotzdem besteht das Ziel, die Kinder auf die Schule vorzubereiten. Mittlerweile hat „Perspektivy“ auch mit einer Schule zusammen Klassen organisiert, in denen nur Kinder mit Behinderung zusammen sind und lernen. Dort unterstützen auch Freiwillige aus Deutschland.
Die Projekte von „Perspektivy“ werden durch Spenden aus Deutschland finanziert. Man kann an den deutschen Verein „Perspektiven“ spenden. Dieser schickt dann das Geld an den russischen Partnerverein. Aufgrund der Sanktionen im Zuge des Krieges in der Ukraine ist das natürlich nicht mehr möglich.
Ich war fünf Monate in Sankt Petersburg. Eigentlich sollten es ein ganzes Jahr sein. Aber da es zu Beginn Probleme mit dem Visum gab, hat es etwas länger gedauert, bis ich in Russland einreisen konnte und aufgrund des Krieges in der Ukraine musste ich das Land früher verlassen.
Ich denke, der Beginn des Krieges war für alle in meinem Umfeld ein großer Schock. Viele von ihnen haben auch Familie in der Ukraine und haben sich große Sorgen um ihre Verwandten und Freunde gemacht.
Als der Krieg in der Ukraine begonnen hat, hat „Perspektivy“ und unsere Entsendeorganisation gesagt, dass es unsere Entscheidung ist, ob wir das Land verlassen oder nicht. Ich habe erstmal von mir selbst aus entschieden, dort zu bleiben. Ich habe mich dort auch sehr wohl gefühlt. Ich habe die Zeit dort sehr genossen. Aber dann hat man die Nachrichten gehört. Das Auswärtige Amt hat sich erst später eingeschaltet. Deshalb hatte ich dann entschieden, dass ich mich nicht auf das Auswärtige Amt verlassen möchte. Meine Familie war dann der ausschlaggebende Punkt für meine Entscheidung zurückzukehren, weil sie sich sehr große Sorgen gemacht haben. Dann kamen auch die ganzen Sanktionen. Man wusste nicht, wie komme ich an Geld, wenn Russland aus dem SWIFT System geworfen wird. Und vor allem: Wie kann ich das Land verlassen, wenn der Flugverkehr eingestellt wird? Am Ende musste ich auch über den Landweg aus Russland raus. Ich bin mit dem Taxi bis zur Grenze und dann von der estnischen Grenze nach Tallinn mit dem Bus. Und von Tallinn aus habe ich später einen kleinen Städtetrip gemacht.
Ich denke, der Beginn des Krieges war für alle in meinem Umfeld ein großer Schock. Viele von ihnen haben auch Familie in der Ukraine und haben sich große Sorgen um ihre Verwandten und Freunde gemacht. Die Freiwilligenkoordinatorin in unserer Organisation hat uns gleich am selben Tag angeschrieben und gefragt, wie es uns geht, und hat uns angeboten, mit ihr zu telefonieren. Sie haben uns sehr unterstützt. Aber natürlich waren sie von Anfang an sehr besorgt, wie sich das alles entwickelt. Und vor allem jetzt ist es schwierig. „Perspektivy“ ist auch zu einem großen Teil von den Freiwilligen abhängig, die auch viel mehr machen als Pflege, sondern mit den Bewohnern in den Heimen spazieren gehen und so den Bewohnern einen annähernd normalen Alltag ermöglichen. Es gibt auch russische Freiwillige und „Perspektivy“ versucht neue anzuwerben. Aber es ist in Russland nicht so verbreitet, einen Freiwilligendienst zu machen, weil der Staat das nicht unterstützt. „Perspektivy“ zahlt einen kleinen Betrag, aber viele russische Freiwillige haben nebenbei noch einen Job, um sich finanzieren zu können. Das ist eine Hürde, weil es in Russland schon einen Druck gibt, schnell einen Beruf anzufangen. Zum Beispiel geht das Studium dort deshalb auch nicht so lang, beziehungsweise besteht für männliche Russen die Gefahr, dass sie eingezogen werden, da es in Russland eine Wehrpflicht von 18 bis 27 Jahren gibt.
Wahrscheinlich werde ich neben meiner Arbeit auch ukrainische Geflüchtete unterstützen.
Es steht noch nicht ganz fest, was ich jetzt mache, aber höchstwahrscheinlich werde ich nach Wroclaw (Breslau) in Polen gehen und dort in einem Kindergarten arbeiten. Wahrscheinlich werde ich neben meiner Arbeit auch ukrainische Geflüchtete unterstützen. Das wäre mir auch sehr wichtig, dass ich alles tue, um dort zu unterstützen, weil ich jetzt eben auch etwas Russisch kann.
Russisch habe ich in Sankt Petersburg von Null gelernt. Das war am Anfang schon recht schwer im Projekt zu verstehen, was die von einem wollen. In Russland sprechen nicht viele Menschen Englisch. In meinem Projekt hat eine Spezialistin Englisch gesprochen. Die andere Spezialistin konnte Deutsch. Aber die kamen auch nur ein- bis zweimal die Woche. Und die normalen Erzieherinnen sprachen nur Russisch. Dadurch, dass wir auch noch einen Sprachkurs hatten, ging es dann mit der Zeit und man hat dann einige Phrasen verstanden. Und man hat immer das gleiche zu den Kindern gesagt. Deshalb war es irgendwann nicht mehr so schwierig.
In Polen lerne ich dann Polnisch. Ich weiß nicht, wie das dann wird. Aber das klingt dem Russischen etwas ähnlich. Mein Eindruck war, dass sie dort recht gut Englisch können.
Ich fand es sehr interessant, dass „Perspektivy“ sehr viel Fachwissen über Inklusion aus Deutschland bezieht. Deutschland ist für „Perspektivy“ in gewisser Weise ein Vorbild. Ich habe einen riesengroßen Respekt vor Menschen, die sich um Menschen mit Behinderungen kümmern. Das ist nicht einfach, vor allem wenn man sich um Menschen mit sehr starken, mehrfachen Behinderungen kümmert, weil man da nicht sehr viel zurückbekommt. Ich glaube, es kann sehr schön sein, mit Menschen mit Behinderungen zu arbeiten, weil sie einfach auch anders sind. Das ist sehr spannend. Ein Lächeln hat da schon einen viel, viel größeren Wert, als wenn man mit ‚normalen‘ Kindern arbeitet. Das habe ich immer sehr geschätzt, wenn irgendwas zurückkam. Es kam nicht viel, aber wenn, dann habe ich mich sehr gefreut.
Interview geführt am: 24.03.2022
Interview veröffentlicht am: 26.04.2022