Birger Höhn, Dresden
Ich bin Autist. Ich bin als Teilhabeberater auf geringfügiger Basis in der ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) angestellt. Ergänzend heißt, dass wir keine andere Beratung ersetzen. Unser Angebot kann zusätzlich durch Menschen mit Behinderung oder deren Angehörige in Anspruch genommen werden. Wir arbeiten hier konsequent nach dem Peer-Prinzip. Das heißt, Betroffene beraten Betroffene oder Angehörige. Unabhängig heißt, unabhängig von Leistungserbringern. Das ist bei den EUTBs in Diskussion, weil nicht alle EUTBs unabhängig sind. Hier auf der Hoyerswerdaer Straße 21 ist die Stadt AG aktives Netzwerk für ein inklusives Leben in Dresden e. V. der Träger. Über den Verein sind viele Wohlfahrtsverbände und Betroffenen-Verbänden gleichberechtigt zusammengeschlossen.
Ich arbeite hier seit September 2018. Vorher habe ich in insgesamt drei verschiedenen Behindertenwerkstätten gearbeitet. Mein Ziel war es immer, auf dem ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, damit ich die Werkstatt verlassen konnte. Was ja sehr schwierig ist. Ich hatte verschiedene Bewerbungen laufen und war auf einigen Außenarbeitsplätzen. Dann habe ich erfahren, dass die Stadt AG hier ein Projekt etablieren will. Ich habe mich einfach beworben und bin glücklicherweise genommen worden. Aktuell arbeite ich 31 Stunden im Monat. Das sind in der Woche circa 7 Stunden, die ich mir auf zwei Vormittage aufteile.
Inhalt meine Beratung ist oftmals Hilfe bei Anträgen, z.B. den Schwerbehindertenausweis. Oder ich berate auf persönliche Assistenzleistungen. Wir informieren auch über das persönliche Budget. Wir sind ein Team von insgesamt 8 BeraterInnen und auch die einzige EUTB hier in Dresden. Es gibt noch den Verein „Lebendiger Leben“, die sind aber dann eher in den Randgebieten beheimatet. Jeder im Team hat seine eigenen Schwerpunkte, weil wir im Team Menschen mit verschiedenen Behinderungen haben. Z.B. haben wir Berater, die eine körperliche Behinderung oder eine Sinnesbehinderung haben oder Berater mit Psychiatrieerfahrung. Und eben auch der Autismus, der als Mehrfachbehinderung gilt. Mein Aufgabenbereich betrifft natürlich die Beratung autistischer Fragen.
Wir haben jetzt auch angefangen, Beratung in den Werkstätten anzubieten. Wir haben festgestellt, dass Menschen, die in Werkstätten arbeiten, Schwierigkeiten haben unsere Beratung in Anspruch zu nehmen. Die Betroffenen werden mit einem Transportunternehmen zur Werkstatt gebracht und dann gleich wieder abgeholt. Sie haben also keine Zeit. Das wird dann auch mehr in meinen Aufgabenbereich fallen, weil ich ja selbst in der Werkstatt gearbeitet habe und weiß wo der Schuh drückt.
" Spätestens mit dem Eintritt in die Werkstatt hab ich begonnen, mich sozial und Schwerbehinderten politisch zu engagieren. Weil ich ja selber davon betroffen war."
In meiner Zeit in der Werkstatt habe ich alles Mögliche gemacht, z.B. Tischlerei, Versand und Verpackung. Ich war auch im Gartenlandschaftsbau und in der Hauswirtschaft tätig. Nur leider wenig in dem Bereich, für den ich ausgebildet wurde. Ich bin nämlich ausgebildete Bürokraft. Man hat versucht, mich im Büro unterzubekommen, aber das war meistens zeitlich begrenzt. Werkstätten haben ja immer unterschiedliche Profile oder Schwerpunkte. Und ich hatte das Pech, dass ich in Werkstätten war, wo dieser Bürojob nicht zum Schwerpunkt gehörte.
Das Wissen für meine Beratertätigkeit eigne ich mir durch Weiterbildungen an. Aber vieles weiß ich auch aus eigener Erfahrung, denn ich habe ja selber Assistenz im ambulanten Wohnen erhalten. Dieser Assistent hat mir dann auch immer beim Ausfüllen von Anträgen geholfen. Solange bis diese Hilfe nicht mehr nötig war. Zum anderen habe ich spätestens mit dem Eintritt in die Werkstatt begonnen, mich sozial und Schwerbehinderten politisch zu engagieren. Weil ich ja selber davon betroffen war. Das führte dann bei mir dazu, dass ich selbst in der Politik aktiv war und bin. Damals bin ich in die SPD eingetreten, jetzt bin ich seit 13 Jahren bei Die Linke. Grund für mein Interesse an der Politik war, das ich unzufrieden mit meinem Leben in der Werkstatt war. Ich wollte gerne Außenpraktika finden, die mir gefallen. Und so bin ich in der Geschäftsstelle vom Stadtverband der Linken in Dresden gelandet. So ist sozusagen mein politisches Interesse erwacht. Und so bin ich auch an das Inklusionsnetzwerk der Stadt AG hier in Dresden herangekommen. Und seitdem bin ich davon nicht mehr losgekommen.
In meinem persönlichen Umfeld merke ich schon, dass es politische und gesellschaftliche Veränderungen gibt. Gesamtgesellschaftlich ist für mich immer noch die UN- Behindertenrechtskonvention maßgeblich. Da hat es kleine Verbesserungen gegeben, aber es ist immer noch sehr viel zu tun.
Für mich ist in letzter Zeit das Thema Euthanasie immer wichtiger geworden. Das hat bei mir in der Familie schon immer eine Rolle gespielt und wurde auch immer mal thematisiert. Denn der Erzeuger meiner Mutter war 1000%er Nationalsozialist. Als ich dann hier eingestellt wurde, habe ich ein paar Wochen später durch meinen Abteilungschef die Anfrage bekommen, ob ich bei einem Peer-Projekt in der Gedenkstätte auf dem Sonnenstein mitmachen möchte. Im Projekt sollen behinderte Menschen ausgebildet werden, Führung in leichter Sprache zu machen. Dafür habe ich mich interessiert und auch gemeldet. Damit spielte das Thema Euthanasie eine viel größere Rolle.
Ich muss dazu sagen, dass ich als Asperger-Autist diagnostiziert wurde. Zurzeit lese ich ein Buch, was sich sehr kritisch mit dem Hans Asperger in der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigt. Weil ich mich auch immer gefragt habe, wie konnte das damals sein? Autismus wurde ja 1944 diagnostiziert. Und die Frage war, wie konnte er in dieser Zeit so eine Behinderung feststellen. Seitdem ich dieses Buch lese, weiß ich leider immer mehr die Antwort darauf. Und da ist auch noch viel Aufklärungsbedarf zu machen. Das ist für mich ein persönliches Anliegen auch als Inklusionsbotschafter.
Asperger war Facharzt für Kinderpsychiatrie. Details weiß ich auch erst, seit ich das Buch lese. Es hat den provokanten Titel “Aspergers Kinder - die Geburt des Autismus im Dritten Reich”. Das Buch wurde von einer US-amerikanischen Historikerin geschrieben, die selbst betroffene Mutter eines Autisten ist. Edith Sheffer heißt die Autorin. Sie schreibt, dass das nationalsozialistische Gedankengut bei ihm auf fruchtbaren Boden gestoßen ist. Sie beschreibt in dem Buch, wie er aufbauend auf dieser Ideologie seine Theorien oder Studien zur autistischen Psychopathie entwickelt hat. Das ist für mich ein sehr spannendes Thema, auch emotional sehr aufwühlend. Wie ich bereits sagte, bin ich ja selber als Asperger-Autist diagnostiziert worden. Hans Asperger hatte in der vermeintlichen Fachwelt einen extrem guten Ruf. Es wurde immer bewundert, dass er Autismus diagnostizieren konnte und das auch noch in dieser Zeit. Dabei wurde sein anderes Wirken gern unter den Teppich gekehrt.
Ich bin sehr stark in der Selbstvertretung engagiert. Selbstvertretung von autistischen Menschen. In der Art gibt es das nur selten in Deutschland. Ich habe mich jetzt gerade mit Freunden aus dem Saarland zusammengetan, die auch alle betroffen sind. Wir wollen eine autistische Selbstvertretung nach dem Vorbild einer Organisation aus den USA aufbauen. Die Organisation heißt ASAN - Autistic Self Advocacy Network. Die sind unser großes Vorbild. Wir versuchen das gerade in Deutschland so ähnlich aufzubauen. In diesem Kontext ist das auch ein großes Thema mit dem Herrn Asperger.
"Menschen mit Autismus, das klingt wie Menschen mit Rucksack."
Ich selbst habe auch ein Buch geschrieben. Es befindet sich jetzt in der zweiten Auflage. Das kann man gern bei mir erwerben, es kostet 5 €. Ich habe mittlerweile Kontakt zu Verlagen aufgenommen, und es soll jetzt demnächst im örtlichen und regionalen Buchhandel verkauft werden. Ich mache auch Lesungen. Man kann das Buch per E-Mail bei mir bestellen unter birger.hoehn@dielinke-dresden.de
Mein Buch ist keine wissenschaftliche Abhandlung über Autismus, sondern eine Biografie. Manche Dinge in meinem Buch passen sicherlich auf alle Autisten. Andere Dinge sind wieder weniger passend, sondern eher individuell auf mich bezogen. Es beschreibt meine Sichtweise. Ich habe es gegenüber der ersten Auflage ein kleines bisschen verändert. In der ersten Auflage stand ganz am Anfang „Innenansichten eines Menschen mit Autismus“. Im Zuge meiner Arbeit für die Selbstvertretung habe ich aber immer mehr die Rückmeldung bekommen, dass die Wortwahl nicht passt. Menschen mit Autismus, das klingt wie Menschen mit Rucksack. Für uns macht aber der Autismus einen großen Teil oder fast alles unserer Persönlichkeit aus, also den ganzen Menschen und nicht nur den Rucksack. Aber diese Sichtweise wird generell in der Behinderten-Community diskutiert. In der zweiten Auflage steht nun "Innenansichten eines autistischen Menschen".
Der Autismus wirkt sich bei mir so aus, dass ich früher Probleme in der Wahrnehmung von Hygiene hatte. Ich habe z.B. nicht gemerkt, wenn ich gerochen habe. Wahrnehmung heißt auch, die Umsetzung von Theoretischem ins Praktische. Deswegen habe ich z.B. auch keinen Führerschein. Ich würde in der theoretischen Ausbildung sehr gut mitkommen, hätte aber dann meine Probleme in der praktischen Ausführung. Auch die Koordination von Sachen die gleichzeitig sind, fällt mir schwer. In letzter Zeit merke ich auch, dass es gut ist eine Struktur bzw. einen Plan zu haben. Ich merke aber auch, wenn ich meinen Wochenplan so anschaue, dass da immer wieder Sachen dazwischen kommen. Es ist dann schwierig für mich, das entsprechend einzuordnen. Meistens klappt es dann aber trotzdem irgendwie. Das liegt vor allem daran, dass ich mir meine Umwelt ein bisschen selber geschaffen habe. Die persönliche Bindung zu denjenigen, die die Veränderung herbeiführen, trägt dann einfach. So wie es jetzt ist, fühle ich mich sehr wohl in meinem persönlichen und beruflichen Umfeld.
Es gibt noch viel Aufklärungsbedarf zum Thema Autismus. Das mache ich auch niemandem zum Vorwurf. Auch nicht hier in der EUTB selbst. Aber an so einzelnen Stellen merke ich, dass da Verständnis fehlt. Es gibt in Leipzig den Verein LunA, also Leipzig und Autismus e.V. Das ist ein Verein der quasi bundesweit wirkt. Das ist der einzige Verein, der nur Autisten bzw. Menschen, die sich diesem Spektrum zuordnen, vertritt und auch von solchen aufgebaut wurde. Die haben auch eine eigene EUTB. Seit diesem Jahr bin ich im Kontaktaufbau mit LunA.
Was würde ich mir wünschen? Leider gibt es meiner Kenntnis nach in keinem Autismus-Zentrum in Deutschland autistische Peers, die dort beschäftigt sind. Es wäre schön, wenn sich das ändern würde. Wir müssen leider auch mit einigen Mythen aufräumen, denen Autisten immer wieder begegnen. Dass wir z.B. keine sozialen Kontakte pflegen könnten. Dass wir Roboter vom anderen Stern sind und in unserer eigenen Welt leben. Ich habe eine autistische Freundin im Saarland, die studiert Psychologie an der Uni. Auf der anderen Seite, und das ist ganz typisch für Autisten inklusive mir, braucht sie ganz viel Hilfe und Unterstützung im Alltag. Sei es bei Arzt-Gängen oder Behörden. Das ist dieser Zusammenhang, den viele Leute nicht verstehen. Wir können rhetorisch tolle Vorträge halten und mittlerweile studieren, aber warum bekommen wir es dann nicht hin unsere Schuhe zu zubinden? Oder bei mir, dass ich es nicht merke, dass mal wieder das Unterhemd aus der Hose guckt. Das sind so Sachen, wo wir immer wieder aufklären müssen. Dass so etwas eben beim Autismus dazugehört.
Am Ende möchte ich noch auf unsere Selbstvertretung hinweisen. Wir haben unsere Bewegung „Autistisches selbstbestimmtes Leben“ genannt. Wir haben auch schon eine eigene Facebook-Seite: https://www.facebook.com/Autistisches-Selbstbestimmtes-Leben-429727001091154/
Interview geführt am: 19.09.2019
Interview veröffentlich am: 11.03.2020