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Herr Raschke, Torgau

Ich habe hier in der Region die erste Selbsthilfegruppe „Diabetes“ gegründet.

Gesichter der Inklusion

Vor 26 Jahren habe ich Diabetes bekommen. Da war ich noch bei der Kriminalpolizei. Zu dieser Zeit war für mich problematisch, dass hier in der Region keiner für diese Krankheit zuständig war. Ich konnte niemanden fragen, wie man mit Diabetes umgeht und was man machen könnte.

Als die Diagnose Diabetes bei mir gestellt wurde, war das die schlimmste Zeit meines Lebens.

Als die Diagnose Diabetes bei mir gestellt wurde, war das die schlimmste Zeit meines Lebens. Ich habe tagelang, wochenlang nur geheult. Ich habe sogar zum Alkohol gegriffen. Bis ich dann irgendwann an dem Punkt war, an dem es darum ging: „Was willst du jetzt machen? Willst du weiter saufen? Wenn du so weitermachst, schläfst du irgendwann unter der Brücke.“ Ich habe aufgehört mit dem Alkohol und trinke seitdem auch keinen Tropfen mehr.

Ich muss dazu sagen, dieser Beruf des Kriminalisten war nicht nur mein Beruf sondern mein Hobby. Ich habe in der vierten Klasse den Entschluss gefasst Kriminalist zu werden. Jeder hat gesagt: Das schaffst du nie. Ich habe es aber geschafft und habe auch Kriminalistik studiert. Da bin ich einer der wenigen. Aber für mich war es Pech, dass es zu DDR-Zeiten keinen Kriminalisten mit Diabetes geben durfte. Es war Dienstvorschrift, dass Polizisten mit Diabetes nicht weiter arbeiten dürfen. Und das wurde auch knallhart durchgesetzt. Ich durfte nicht mehr ständiger Waffenträger sein, was ich ja bis dahin war und durfte deshalb meinen Beruf nicht mehr ausführen. Und das war für mich eine Katastrophe. Beruflich hätte ich ohne weiteres einen anderen Job gefunden, denn ich kann im Prinzip alles. Auch Torten backen oder Landwirtschaft.

Das war aber DDR Vorschrift, dass man mit Diabetes keine Waffe tragen darf. Heute kenne ich so viele, die Diabetes haben und bei der Polizei sind.

Ich bin dann Sicherheitsinspektor im Flachgaswerk Torgau geworden, so dass ich finanziell abgesichert war. Aber es war eben der Kriminalist, der weg war. Und das hat mich geschafft. Wenn die Wende schon eher gekommen wäre, dann hätten sie mich behalten müssen. Ich hätte noch ein halbes Jahr gebraucht, um 15 Jahre bei der Polizei voll zu machen. Und dieses halbe Jahr haben sie genutzt um mich raus zu wippen. Dann hätten sie mich behalten müssen und hätten mich im Innendienst beschäftigen müssen. Irgendwo, wo ich keine Waffe tragen musste. Der Polizeichef von Torgau wollte mich halten, er hat ja alles versucht um mich zu behalten. Wenn er das geschafft hätte, wäre ich jetzt noch bei der Polizei, dann wäre der Diabetes kein Problem. Das war aber DDR Vorschrift, dass man mit Diabetes keine Waffe tragen darf. Heute kenne ich so viele, die Diabetes haben und bei der Polizei sind.

Ich habe hier in der Region die erste Selbsthilfegruppe „Diabetes“ gegründet.

Ich habe Diabetes 1. Und nach meiner Diagnose begonnen mich zu belesen. Ich hatte natürlich auch gute Ärzte an meiner Seite, das muss man sagen. Den Dr. Bruck vom St.-Georg, und den Dr. Steindorf. Das sind die zwei Ärzte, die hauptsächlich mit mir gearbeitet haben. Die haben zu mir gesagt: „Pass auf, wenn du dann richtig fit bist, wenn du deine Insulin-Pumpe hast, dann tust du uns einen Gefallen und machst eine Selbsthilfegruppe Diabetes in Torgau auf. Da gibt es nämlich noch keine.“ Das habe ich den Ärzten versprochen mit der Maßgabe, dass ich immer die neuesten Informationen über die Technik und Fortschritte auf dem Gebiet Diabetes bekomme. Das haben wir auch so beibehalten.

Ich habe hier in der Region die erste Selbsthilfegruppe „Diabetes“ gegründet. Wir waren ca. 90 Mitglieder, die regelmäßig zu den Schulungen kamen. Ich habe vom damaligen Apotheker ein Büro und jede mögliche Unterstützung bekommen. Das war großartig. Er hat wirklich alles getan damit ich das mit der Selbsthilfegruppe problemlos machen konnte. Und so bin ich immer mehr da rein gewachsen.

Mit der Wende wuchs das Problem des Ärztemangels. Wir haben uns sehr bemüht. Denn es ging darum, dass die Leute versorgt sind und alles bekommen was Sie brauchen. Ich bin ja eigentlich Kriminalist und hatte die Kontakte. Ich kannte fast jeden hier. Deshalb wusste ich immer wo ich hin musste, wenn irgendwas nötig war. Das hat auch immer funktioniert. Wir sind gut zu Recht kommen mit den Ärzten, bis zu dem Punkt an dem sich die Kassenärztevereinigung eingeschaltet hat und uns rausgewippt hat. Wir waren bis dahin eine richtige Kommission zur Schaffung von Ärzte-Plätzen hier in der Region. Das Problem der fehlenden Ärzteversorgung ist bis heute nicht geklärt. Darauf hätte schon damals von Regierungsseite aus reagiert werden müssen. Sonst wäre es nicht so weit gekommen. Das muss man ganz eindeutig für diese Region sagen. Die Politik hat nicht zugehört und jetzt ist es so, dass wir mittlerweile keine Ärzte mehr haben. Es gibt Leute die gar keinen Hausarzt haben. Deshalb sind die Krankenhäuser überlastet, denn die die keinen Arzt haben laufen dorthin. Wir in Torgau haben wenigstens noch ein Krankenhaus. Es ist das einzige hier in der Region. Patienten gibt es mehr als genug. 

Die technische Entwicklung bezüglich Diabetes habe ich jetzt hautnah miterlebt und muss sagen, es ist Wahnsinn wie sich das entwickelt hat. Die Pharmaindustrie hat auch verstanden, wie sie die Diabetes-Patienten „aushorchen“ muss, um zu verstehen was diese brauchen. Ich war ja Teil der Forschungsgruppe am St.-Georg-Krankenhaus in Leipzig. Dort waren wir unter ständiger Beobachtung und es wurde festgehalten, was wir brauchen bzw. was wir machen. Wir waren im Raum Leipzig die ersten, die Insulin frei gespritzt haben und gegessen haben was wir wollten. Wir haben dann versucht es mit dem Insulin wieder auszugleichen. Da wusste man noch gar nicht, wohin das Schiff segelt. Heute weiß man, dass da gar nichts passiert. Es ist wie eine Bauchspeicheldrüse, man impft es weg und versucht den Blutzuckerspiegel normal zu halten.

Worauf ich warte ist, dass die Insulinpumpe mit dem Messgerät zusammenarbeitet. Momentan muss ich alles noch selbst steuern.

Ich habe ein digitales Messgerät mit einem Implantat. Worauf ich warte ist, dass die Insulinpumpe mit dem Messgerät zusammenarbeitet. Momentan muss ich alles noch selbst steuern. Ich messe und stelle dann die Insulinpumpe ein. Das erwarte ich noch in meinem Leben, dass das automatisch passiert. Es könnte auf den deutschen Markt kommen. In der Schweiz und in Amerika funktioniert es schon. In Deutschland braucht man allerdings 10 Jahre, bis etwas auf den Markt kommt. Das sind die Zulassungsregeln. Aus der Sicht der Pharmaindustrie sind das Sicherheitsmaßnahmen. Aus meiner Sicht dauert es einfach zu lange.

Ich habe versucht allen zu helfen, das ist einfach so gewachsen.

Seit 26 Jahren setze ich mich für diese und andere Themen in meinem Selbsthilfegruppen-Dasein ein. Das hat mit Diabetes angefangen, aber mit der Zeit habe ich mich auch um alle Belange von Patienten gekümmert, die zu mir gekommen sind. Ich habe versucht allen zu helfen, das ist einfach so gewachsen. Das meiste habe ich von zu Hause gemacht. Die Pumpenträger z.B., die haben Tag und Nacht angerufen wenn irgendwas defekt war. Wenn z.B. die Pumpe abgestürzt ist durch einen Elektronikschaden, dann konnten die teilweise ihre Pumpe nicht mehr starten. Ich aber wusste wie das geht. So habe ich dann nachts um 3 Uhr die Pumpe neu gestartet, und dann sind sie wieder nach Hause gefahren.

Nach Dresden zu LAGSH bin ich gekommen wie der Gärtner zur Sense. Ich hatte dort einen guten Freund, der rief mich eines Tages an und fragte, ob ich Zeit und Lust hätte die Leitung zu übernehmen. Denn da war gerade Not am Mann. Nach einem Jahr habe ich aber aufgehört, denn ich habe das Problem, dass ich vieles vergesse. Das kommt durch die Eiweißablagerungen im Gehirn. Deshalb kann ich mir nicht alles merken. Deshalb habe ich auch schon vieles aufgeschrieben, dadurch kann es nicht verlustig gehen. Ich habe es zuerst bei der Arbeit gemerkt. Von einem Tag auf den nächsten konnte ich mir bestimmte Sachen nicht mehr merken, das war einfach weg. Deshalb habe ich gesagt, ich kann im Vorstand nicht mehr arbeiten. Das ist jetzt im Prinzip in den letzten 2-3 Jahren so passiert. Deshalb ziehe ich mich auch langsam etwas zurück von der vielen Arbeit.

Ich bin immer noch der Behindertenbeauftragten für Torgau und Oschatz. Direkt vom Landkreis Nordsachsen festgelegt. Ich bin vereidigt mit Urkunde und übe diese Arbeit für 5 Jahre aus. Es ist auch anspruchsvoll, denn jedes bauliche Projekt läuft über unseren Tisch. Und wenn etwas verändert werden soll, dann müssen wir klären ob das so geht oder nicht. Man muss kompromissbereit sein, denn man ist Einzelkämpfer. Man muss pfiffig genug sein und sich die Informationen besorgen, die man braucht. Es werden zwar Schulungen in Dresden angeboten, diese kann ich aber aus gesundheitlichen Gründen nicht wahrnehmen.

Was weniger funktioniert ist die Kommunikation mit denen, die die Bauprojekte von der Stadt Torgau konzipieren und umsetzen. Diejenigen die das Projekt umsetzen, die treffe ich nie. Ich versuche aber darauf zu achten, dass jede Art von Behinderung berücksichtigt wird bei den Bauprojekten. Denn jede Behinderungsart braucht seine eigenen Umsetzungsmaßnahmen. In Schkeuditz ist z.B. der Marktplatz ein positives Beispiel, wie man es hervorragend umsetzen kann.

Ich würde mir wünschen, dass unsere Politiker die Jugend auch an die Macht lässt.

Inklusion mache ich mit Frau Gruner vom Landratsamt. Als das Thema Inklusion begann, habe ich mich hauptsächlich für Kinder und Jugendliche engagiert. Auf dieser Schiene bin ich auch geblieben und schaue, dass da alles funktioniert. Z.B. bei der Schule in Oschatz, die neu gebaut werden sollte. Da habe ich darauf geachtet, dass alles so passt und barrierefrei ist. Ich habe z.B. eine Leipziger Firma vermittelt, die den Fahrstuhl für die Schule so gebaut hat wie es sein sollte, nämlich barrierefrei. Die Umsetzung kostete zudem weniger, als es die Firma ausgewiesen hatte, die eigentlich den Fahrstuhl bauen sollte. 

Ich würde mir wünschen, dass unsere Politiker die Jugend auch an die Macht lässt. Dass die Älteren sich in die zweite Reihe setzen und die Jugend in die Erste. Da kommt immer etwas Neues, da sind immer andere Ansichten vorhanden. Man soll sie machen lassen. Es ist ihr Leben. Die älteren Semester sollten ihre Erfahrungen weitergeben und die Jungen beraten, aber sie sollten sie machen lassen.

Interview geführt am: 04.06.2019

Interview veröffentlicht am: 14.02.2020