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Mandy, Freital

Die Entscheidung für Cochlea Implantate war nicht einfach. Man mischt sich ja aktiv in das Leben des eigenen Kindes ein. Man muss eine weitreichende Entscheidung treffen, ohne zu wissen, ob das Kind diese einmal gutheißen wird. Mein Kind ist und bleibt aber trotz allem immer gehörlos.

Gesichter der Inklusion

Mein Name ist Mandy, ich bin Mutter von drei Kindern, drei Jungs. Mein Jüngster wird Ende 2020 sieben und ist von Geburt an gehörlos. Es war sozusagen ein Notkaiserschnitt in letzter Minute. Als Frühchen mit 1.300 g lag mein Sohn noch 4 Wochen auf der Intensivstation, bis wir den kleinen Floh mit 1.800 g endlich mit nach Hause nehmen durften.

Das Ergebnis war niederschmetternd: mindestens hochgradig schwerhörig, wenn nicht gar gehörlos.

Im Krankenhaus war schon der erste Hörtest auffällig. Da sagte man mir noch: Naja, es ist ja noch alles sehr, sehr klein. Unsere Geräte sind gar nicht dafür ausgelegt. Ich sollte nach der Entlassung nochmal zum Ohrenarzt und die Untersuchung wiederholen lassen. Dieser Test war jedoch auch mehr als auffällig. Allerdings habe ich zu diesem Zeitpunkt immer noch geglaubt, es sei alles in Ordnung. Man stelle sich einmal vor, wie einem 44 cm Winzling solche riesige Mickymaus-Kopfhörer aufgesetzt werden – das kann doch gar nicht funktionieren. Wir wurden in die Audiologie der Uniklinik in Dresden überwiesen und waren dann etwa zum errechneten Geburtstermin dort bestellt. Bei der sogenannten BERA-Untersuchung wird dem Kind Melatonin, das Schlafhormon, verabreicht, damit es bei der Untersuchung schläft und relativ ruhig liegt. Über Kopfhörer werden Töne abgespielt und mittels EEG werden die Reaktionen darauf im Gehirn ermittelt. Das Ergebnis war niederschmetternd: mindestens hochgradig schwerhörig, wenn nicht gar gehörlos. Die Ärztin sprach mir gut zu, dass aufgrund der Frühgeburt durchaus noch etwas nachreifen könnte. Bis zur nächsten Kontrolle sollte ich meinen Sohn beobachten, ob ich irgendwelche Reaktionen auf Geräusche bzw. Krach beobachten könnte. Es fiel mir schwer das Ergebnis zu glauben und ich bildete mir öfter ein, eine Reaktion bemerkt zu haben. Wenn man sich aber ein bisschen intensiver mit dem Thema beschäftigt, erfährt man schnell, dass Gehörlose eine viel feinere Wahrnehmung haben und scheinbar Schwingungen wahrnehmen können. Ich habe diese Erfahrung ebenfalls gemacht: mein kleiner Sohn schlief in einer Federwiege, die an einem Deckenhaken befestigt war. Er hatte also keinerlei Bodenkontakt. Trotzdem ist er aufgewacht, als seine Brüder im Nachbarzimmer vorbei getobt sind. Und den Staubsauger konnte er auch in der Wohnung ausfindig machen. Die Gewissheit brachte dann ein Test in der Humangenetik.

Mein Kind hat einen Gendefekt, der für die angeborene Taubheit verantwortlich ist. Hierbei gibt es zwei mögliche Szenarien: entweder es ist eine isolierte Gehörlosigkeit, oder es liegt das sogenannte Usher-Syndrom vor. Dieses ist die häufigste Ursache für Taubblindheit. Es kann also passieren, dass mein Kind noch erblindet. Die Chance steht 50:50. Aufgrund seiner angeborenen Taubheit müsste es theoretisch jetzt, mit 6 ½ Jahren, losgehen. Wir waren aktuell vor zwei oder drei Wochen wieder zur Kontrolle beim Augenarzt. Aber da sieht bis jetzt zum Glück alles gut aus. *alle klopfen auf Holz* Es beginnt mit Gesichtsfeldeinschränkungen. Bei der Messung des Gesichtsfeldes gab es jedoch keine Auffälligkeiten. Ich hoffe einfach, dass der Kelch an uns vorüber geht. Er ist ja so schon gehandicapt genug: Gehörlos, stark kurzsichtig und eine Gleichgewichtsstörung.

Er sollte die Chance bekommen, einen Einstieg in die Welt der Hörenden zu finden.

Irgendwann standen wir dann vor der Entscheidung Cochlea-Implantat ja oder nein. Nach reichlichem Abwägen stand fest, dass der kleine Kämpfer implantiert werden sollte. Er sollte die Chance bekommen, einen Einstieg in die Welt der Hörenden zu finden. Wenn er später mal für sich entscheidet: ich möchte das nicht, weil ich mich hier nicht zugehörig fühle, ich gehöre zur Gehörlosengemeinschaft, dann kann er die Geräte immer noch abnehmen. Die Implantate bleiben zwar, aber er muss sie nicht nutzen. Trotzdem hat er alle Möglichkeiten.

Beim Einsetzen des Implantats wird hinter dem Ohr ein Schnitt gesetzt und in die Schädeldecke ein Bett gefräst, in das das Implantat eingesetzt wird. Der Operateur bohrt einen Durchgang zum Innenohr, um das Band mit den Elektroden in die Hörschnecke einfädeln zu können. Die verschiedenen Elektroden reizen die unterschiedlichen Bereiche und erzielen somit hohe und tiefe Töne. Diese elektrischen Impulse werden über den Hörnerv ans Gehirn weitergeleitet und dort verarbeitet. Damit das Ganze funktioniert und die Geräusche von außen nach innen gelangen, braucht es noch einen Prozessor je Implantat. Das Gerät sieht ein bisschen aus wie ein großes Hörgerät. Das Ganze ist aber noch mit einer Magnetspule verbunden, die dann von außen an das Implantat andockt. Wenn die Magnetspule ab ist, dann hört der Träger nichts. - Es gibt im Internet Seiten, auf denen man sich anhören kann, wie das ungefähr für einen Träger eines Cochlea Implantats (CI) klingt. Für uns normal hörende klingt es blechern, ein von Geburt an gehörloser kennt es jedoch nicht anders, für ihn ist das normal. Wirklich beurteilen können das nur ältere Menschen, die mit der Zeit ertauben und sich dann für ein CI entscheiden. Die Verarbeitung ist jedenfalls eine Wahnsinns Gehirnleistung. Bei der „Langen Nacht der Wissenschaften“ in der Uniklinik kurz vor der Implantation, gab es dazu einen Vortrag. Beim ersten Abspielen der Hörprobe klang es einfach nur blechern und man konnte nicht viel verstehen. Aber bei jeder weiteren Wiederholung wurden die Worte verständlicher. Es ist also ein intensiver und anstrengender, Lernprozess.

Dieser Moment, als er das erste Mal etwas hören konnte, war unglaublich!

Es ist von Vorteil, die Implantation so früh wie möglich zu machen, denn es gibt nur ein schmales Zeitfenster für die Sprachentwicklung, welches mit etwa vier Jahren abgeschlossen ist. Deswegen ist es gut, die OP so zeitig wie möglich vorzunehmen. Da mein kleiner Kämpfer ein Frühchen war, wollten die Ärzte lieber ein bisschen länger mit der OP warten. Mit 11 Monaten wurde er dann beidseitig während einer 5 ½ stündigen OP implantiert. Ich habe noch nie solche Ängste ausgestanden. Aber es ist alles gut gegangen. Nach der Einheilung wurden die Implantate das erst Mal angeschaltet, da war er 13 Monate alt. Dieser Moment, als er das erste Mal etwas hören konnte, war unglaublich! Ich habe es sogar gefilmt und bekomme noch heute Gänsehaut, wenn ich mir das Video ansehe. Mein Sohn saß auf meinem Schoß und die Ärztin schlug auf eine Trommel. Er schaute mich plötzlich an wie: Hast Du das auch gehört? Das werde ich nie vergessen. Er hat von Anfang so tolle Reaktionen gezeigt. Das ist nicht bei jedem so. In unserem Fall hat aber alles bestens funktioniert und mein Kind hört für seine Verhältnisse relativ gut. Mit einem normal Hörenden kann man ihn aber trotzdem nicht gleichsetzen. Es schloss sich eine dreijährige REHA-Phase im CI-Zentrum in der Uniklinik Dresden an, in der regelmäßig die Einstellungen der Implantate überprüft wurden. Durch verschiedene Therapien wurde außerdem das Hörenlernen geschult und gefördert. Im Anschluss begann die lebenslange Nachsorge. Mittlerweile werden nur noch 2 mal jährlich die Einstellungen kontrolliert und ggf. angepasst. Irgendwann steht dann mal eine Reimplantation an, weil die Technik immer weiter voranschreitet. Dann ist die Technik, die er im Kopf trägt, einfach so veraltet, dass sie ausgetauscht werden muss. Der Eingriff ist dann aber hoffentlich nicht mehr so groß.

Mein Kind ist und bleibt aber trotz allem immer gehörlos.

Die Entscheidung für Cochlea Implantate war nicht einfach. Man mischt sich ja aktiv in das Leben des eigenen Kindes ein. Man muss eine weitreichende Entscheidung treffen, ohne zu wissen, ob das Kind diese einmal gutheißen wird. Mein Kind ist und bleibt aber trotz allem immer gehörlos. In unserer Familie beherrscht jedoch niemand Gebärdensprache, ebenso wenig wie im normalen Umfeld. Somit wäre er immer ein wenig ausgegrenzt. Nun hat er aber die Möglichkeit zu hören, sich einzubringen und teil zu haben. Und trotzdem war von vornherein klar, dass wir die Deutsche Gebärdensprache (DGS) lernen, es ist immerhin seine Muttersprache. Obendrein haben die CI's auch ihre Grenzen, gerade in einer lauten Umgebung kommt einfach zu wenig an. In solchen Fällen behelfen wir uns dann mit DGS. Dabei handelt es sich um ein vollwertiges Sprachsystem, es ist vergleichbar, wie wenn man eine Fremdsprache erlernt. Natürlich beherrschen wir die DGS nicht perfekt, aber es reicht, um miteinander kommunizieren zu können. Und ganz nebenbei freuen sich die Gehörlosen, mit denen ich immer wieder in meinem Job zusammentreffe, dass ich ein bisschen ihrer Sprache beherrsche. Das ist ja nicht selbstverständlich.

Zweimal in der Woche kommt dazu eine gehörlose Dozentin zu einem Hausgebärdenkurs, einmal zu uns nach Hause und einmal in die KiTa bzw. bald dann in den Hort. Ich fand es sehr schön, dass der Kindergarten so mitgezogen hat. Die Erzieherinnen waren ganz offen und haben selbst einen Crashkurs gemacht, um zumindest die wichtigsten Gebärden im Umgang mit meinem Sohn zu kennen. Beim wöchentlichen Besuch der Dozentin haben dann auch die anderen Kinder der Gruppe spielend einige Gebärden gelernt. So sieht für mich echte Inklusion aus. Die Kinder lernen von klein an, dass es Vielfalt gibt und das das nicht schlimm, sondern eine Bereicherung ist. Für die Schule wünsche und erhoffe ich mir das gleiche. Dazu wird er mit einem Integrationsstatus an einer normalen Grundschule beschult. Die Begleitung durch einen Gebärdendolmetscher habe ich erst einmal abgelehnt. Gerade habe ich mich wieder ein dreiviertel Jahr mit dem Sozialamt wegen der Kostenübernahme für den Hausgebärdenkurs herumgestritten. In diesen 9 Monaten hatte mein Kind keinen DGS-Unterricht. Ich glaube daher, dass sein Gebärden-Wortschatz für die Schule nicht ausreicht und ihn ein Dolmetscher nur ablenken würde.

Es sollte selbstverständlich sein, dass Eltern in solchen besonderen Situationen die Unterstützung bekommen, die sie brauchen und benötigen.

Diese Probleme mit dem Sozialamt sind leider Normalität, nicht nur bei uns. Dabei geht es hier um eine Leistung, die ihm zusteht. Letztlich wurde der Kurs rückwirkend bewilligt und man sagte mir, ich könne die Rechnungen für die bereits vergangenen Monate zur Begleichung einreichen: 18.000€! Die kann ich nicht vorstrecken, weshalb der Kurs so lange pausierte. Ich konnte mit einem Widerspruch aber bewirken, dass die „verlorenen“ Monate nun hintenan gehängt werden. Trotzdem ist es mehr als ärgerlich, dass das Sozialamt die Bewilligung immer wieder hinauszögert oder mit teils hanebüchenen Begründungen abweist. Ich möchte nur, dass mein Sohn sich auch in schwierigen Hörsituationen verständigen kann bzw. wenn die Technik versagt und dazu braucht er die Gebärdensprache nun mal. Als erstes Kind in einer Familie von ausschließlich Hörenden, kann ich ihm seine Muttersprache nicht lehren. Es sollte selbstverständlich sein, dass Eltern in solchen besonderen Situationen die Unterstützung bekommen, die sie brauchen und benötigen. Und damit meine ich nicht nur uns, sondern jede Familie, die davon betroffen ist! Denn diese langwierigen Kämpfe sind zeit- und kräfteraubend. Ich gehe arbeiten, habe drei Kinder von 12, 9 und bald 7 Jahren. Der Jüngste hat in der Woche diverse Therapien, wie Logopädie, Frühförderung, Physiotherapie. Die größeren Geschwister gehen zum Sport. Irgendwo fehlen da die Kapazitäten für solche Auseinandersetzungen. Zeit, die ich lieber für meine Kinder direkt nutzen würde.

Interview geführt am: 30.06.2020

Interview veröffetnlicht am: 03.11.2020